Andrae, Friedrich: Auch gegen Frauen und Kinder. Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in Italien 1943–1945, 311 S., Piper, München/Zürich 1995.

Die umfangreiche italienische Literatur zur Resistenza werde hierzulande überhaupt nicht wahrgenommen. Diesem Missstand abzuhelfen ist das erklärte Anliegen des gelernten Historikers und pensionierten Direktors der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen Friedrich Andrae, der sich seit den 1960er Jahren vor allem als Rezensent zeitgeschichtlicher Neuerscheinungen einen Namen gemacht hat. Und so untersucht er anhand italienischer Publikationen und der entsprechenden deutschen Archivalien den ‚Bandenkampf‘, den die deutsche Wehrmacht seit dem Ausscheiden des ehemaligen Verbündeten aus dem Zweiten Weltkrieg von September 1943 bis September 1944 auf dem italienischen Festland geführt hat.

In wenigen sachnotwendigerweise groben dafür aber zumeist anschaulich gezogenen Strichen werden zunächst die allgemeinen Rahmenbedingungen des Geschehens umrissen: die faktische Dreiteilung Italiens in einen von alliierten Armeen besetzten monarchischen Süden und der die Mitte und den Norden umfassenden faschistischen ‚Republik‘ Mussolinis, die in Wirklichkeit nichts anderes als ein von den Deutschen eingesetztes und kontrolliertes Marionettenregime war. Den Schwerpunkt der Ausführungen bildet dann aber die ausführliche Schilderung der zahlreichen von der Wehrmacht und der Waffen-SS im Rahmen der Partisanenbekämpfung verübten Kriegsverbrechen an der italienischen Zivilbevölkerung. Die von Andrae vermittelten Berichte erinnern unwillkürlich an diejenigen Bilder, die man in Deutschland vor allem mit dem Einmarsch der Roten Armee in die ehemaligen deutschen Ostgebiete in Zusammenhang bringt: Eine entfesselte, wahllos plündernde, mordende und vergewaltigende Soldateska fällt über wehrlose Frauen, Greise und Kinder her. Kaum jemand wird sich der haarsträubenden Wirkung dieser Litanai des Grauens entziehen können.

Trotz ihrer Eindringlichkeit hinterläßt Andraes Studie beim Fachhistoriker allerdings einiges Unbehagen. Dies liegt an der nicht hinreichenden systematisierenden Durchdringung und der insgesamt nicht ausgewogenen Präsentation des Stoffes. So werden die Greueltaten zwar ausführlich dargestellt, die konkreten Verantwortlichkeiten auf der deutschen Seite, die Befehlswege und die Motive der Täter allerdings nur ungenügend ausgeleuchtet. Hier wird vieles nur behauptet beziehungsweise vermutet, was zunächst einmal empirisch stringent zu belegen wäre. So läuft das von Andrae angebotene Erklärungsmodell im Wesentlichen darauf hinaus, die deutschen Verbände und Befehlshaber hätten ihre ungezügelt grausamen Verhaltensweisen einfach vom sowjetischen Kriegsschauplatz auf Italien übertragen. Dies könnte so gewesen sein, müsste aber präzise anhand der Quellen nachgewiesen werden. Hier genügt es nicht, auf die inhaltliche Verwandschaft zwischen den Befehlen Kesselrings und denen von Oberbefehlshabern an der Ostfront hinzuweisen. Vielmehr müsste auch der Handlungs- und Motivationsrahmen am unteren Ende der Befehlskette genauer untersucht werden.

Zudem ergreift Andrae unnötigerweise Partei, macht sich den Standpunkt der italienischen Resistenza-Literatur ohne die dem Historiker auch angesichts solcher Themen wohl anstehende differenzierend-kritische Distanziertheit voll zu eigen. Dabei dient diese Literatur, ebenso wie diejenige über die Resistance in Frankreich beziehungsweise die über den Widerstand in Deutschland immer auch der Legitimation der in diesen Ländern nach 1945 entstandenen politischen Systeme. Dies führt in allen Fällen zur Politisierung der Vergangenheit im Dienste gegenwärtiger Interessen, was die wissenschaftlich rekonstruierbare historische Situation nicht selten mehr oder weniger vorsätzlich verfälscht – eine Problematik, die bei Andrae überhaupt nicht reflektiert wird.

Alles in allem bietet der Autor eine populäre Darstellung eines in Deutschland nur allzu lange zugunsten des Geschehens im „Weltanschauungskrieg“ gegen die Sowjetunion vernachlässigten Themas. Er weist – wie dies vor ihm Gerhard Schreiber schon mehrfach getan hat – noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass sich die kriminelle und massennmörderische Kriegführung des militärischen Apparates NS-Deutschlands keineswegs nur auf den Osten beschränkt hat. Als umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Problematik anhand aller verfügbaren deutschen und italienischen Quellen kann sein Buch allerdings nicht gelten.

Gießen, Enrico Syring

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