Baiculescu, Michael/Becker, Joachim (Hrsg.): Kap der kleinen Hoffnung. Das Südliche Afrika nach der Apartheid, 224 S., Promedia, Wien 1993.
Das ‚Neue Südafrika‘, umgewandelt von der letzten Bastion weißen Rassendünkels zu einer im Lichte nationaler Versöhnung strahlenden Demokratie, zwingt zum Umdenken – nicht nur die Südafrikaner. Auch die Parteigänger der Widersacher von gestern in Europa müssen zusehen, was sie von ihren alten Urteilen und Vorurteilen noch gebrauchen können, antibolschewistische Kämpfer des christlichen Abendlandes genauso wie Anti-Apartheid-Bewegte. Die letztgenannten melden sich mit dem hier anzuzeigenden Sammelwerk zu Wort. Baiculescu redigiert in Wien den Mosambik-Rundbrief, Becker arbeitete bis 1991 für den Bonner „Informationsdienst Südliches Afrika“ (ISSA) und die Anti-Apartheid-Nachrichten. Seit 1992 ist er Assistent an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Leser, die der Wissenschaft huldigen, werden sich zuerst auf den Beitrag von Immanuel Wallerstein stürzen, des amerikanischen Soziologen, der die Imperialismus- und Dependencia-Theorien zu einem faszinierenden historischen Kolossalgemälde des „Kapitalistischen Weltsystems“ modernisiert hat. Wallersteins Bestimmung des Platzes, den das Südliche Afrika in der „neuen Weltordnung“ einnimmt (gemeint ist natürlich die Wallerstein’sche, weniger die von Präsident Bush 1991 verkündete), erschien schon 1992 bei ISSA. Sein Kerngedanke durchbricht altgewohnte Schemata der Linken wie der Rechten und ist deshalb nicht weniger korrekt: dass nämlich alle drei globalen Ideologien der Vergangenheit, Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus „auf das liberale Programm geordneter ‚Reformen‘ ein(geschwenkt sind), die von ‚Experten‘ durchgeführt wurden. Konservative wurden zu liberalen Konservativen und Sozialisten zu liberalen Sozialisten“ (S. 27). Dieser Prozess erfasst auch den südafrikanischen ANC samt Kommunistischer Partei. Nun ist Wallerstein Pessimist; für ihn ist der Liberalismus („das heißt der Glaube, dass staatlicher Reformismus die Lösung für die Krankheiten des Kapitalismus ist“, S. 28) zusammengebrochen, die nach-liberale Ära „verspricht eine Zeit großer Weltunordnung zu werden“ (5.31). Kann der ANC also seinen Schwung erhalten, den er liberalem Optimismus verdankt? Wallerstein vermeidet ein glattes Nein auf diese Frage, kommt ihm jedoch nahe, wenn er den Befreiungs- und Solidaritätsbewegungen weltweit, sich mit ihnen identifizierend, ins Stammbuch schreibt: „In den letzten 150 Jahren haben wir alle die ‚Zwei-PhasenGesellschaft‘ verändern. Das hat nicht funktioniert und wird auch nicht funktionieren.“ Konsequenz? „Wir brauchen mehr Streiks und nicht weniger; und vor allem brauchen wir höhere Entlohnung der Arbeitskräfte in allen peripheren und halbperipheren Zonen der Welt. Wir brauchen ständigen Druck von der Basis und nicht ihre wiederholte Beschwichigung durch die nationale Führung.“ Ob der ANC sich das zu Herzen nimmt? Oder Südafrikas Großkapital?
In Joachim Beckers Beiträgen (vor allem „Südafrika: Welcher Weg zu welcher Demokratie?“) fällt auf, wie treffend, objektiv und kritisch er gegebene Zustände analysiert, und wie verschwommen sein Bild der „tiefgreifenden Reformen“ (5.38) bleibt, die er dem ANC dringend nahelegt; „die Reformspielräume [...] werden erheblich eingeschränkt sein“ (8.60). So ist es.
Die Herausgeber haben sich nicht gescheut, in diesen Band kritische Untersuchungen aufzunehmen, die vorläufige Bilanzen der Befreiungspolitik in jenen Ländern des Südlichen Afrika ziehen, die schon seit einigen Jahren von Sozialisten (im Sinne Wallersteins also liberalen Reformern) regiert werden: Zimbabwe, Namibia, Mosambik, Angola. Henning Melber deutet an, dass ihm die Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß, sozial gesehen also zwischen Unten und Oben, in Namibia etwas weit geht, artete sie doch zu einer in der Verfassung verankerten Beschäftigungsgarantie für den Öffentlichen Dienst des alten Regimes aus; die Beamtengehälter verschlingen fast die Hälfte des Staatshaushaltes. „Für staatliche Umverteilungsmaßnahmen [...] bleibt da kein Spielraum mehr. Der wäre aber eigentlich dringend nötig“ (8.65).
Bernward Causemann (Journalist, Stuttgart) übt ähnliche Kritik an Zimbabwe, abgeleitet jeweils von Kernsätzen der Programmrede des Präsidenten Mugabe am Vorabend der Unabhängigkeit 1980 : „[...] trotz sozialistischer Rhetorik starke Tendenzen zu einer moderaten nationalistischen Politik beschränkter Strukturreformen“ (S. 74) – die dann womöglich noch schiefgehen wie die Ausweitung der Grundschulbildung, wobei natürlich die Qualität litt. Das Volk freilich, das schwarze Volk hat gerade diese Politik gewollt. Es stimmt wohl auch der Förderung eines begrenzten Kreises schwarzer Kleinbauern zu, während die weißen Großfarmer zehn Jahre lang durch die Übergangs-Verfassung geschützt waren. Unser Autor hätte eine revolutionäre Landreform lieber gesehen, räumt freilich ein, dass die Lebensmittel für das Volk und die agrarischen Exportgüter zum erheblichen Teil von den Großfarmen produziert werden. Ich hätte in diesem Kapitel gern Stimmen aus der politisch chancenlosen, intellektuell aber eindrucksvollen Opposition Zimbabwes gehört.
Dass UNITA-Chef Savimbi die Hauptschuld an der Fortsetzung des angolanischen Bürgerkriegs nach den Wahlen im September 1992 trägt, wird Sebastian Kasack (Weltfriedensdienst, Berlin, jetzt Zürich) niemand bestreiten, hat doch selbst US-Präsident Clinton die MPLA-Regierung im Mai 1993 anerkannt. Dagegen werden nicht alle Michael Baiculescu in seiner Einschätzung folgen, dass in Mosambik die RENAMO bei Wahlen chancenlos wäre, so dass man „Demokratie“ für dieses Land wie er es tut, vorerst in Gänsefüßchen schreiben müsste. Er hält daran fest, das Konzept des von der Sowjetunion übernommenen Einpartei-Systems der FRELIMO „stimmte in großem Ausmaß mit der Realität der mosambikanischen Gesellschaft überein. [...] Die Frelimo war populär.“ (S. 101); sicher, zu Zeiten der portugiesischen Kolonialherrschaft – aber wie lange danach?
Dies sind Überlegungen zum ersten, politischen Teil des Buches, den die Herausgeber unter die Titelzeile „Frieden und Demokratisierung: weder noch?“ gestellt haben; mich versöhnt mit diesem pessimistischen Stoßseufzer das Fragezeichen am Ende.
Es folgen ein Wirtschaftsteil mit Beiträgen von Sigrid Thomsen (Journalistin, Hamburg) über Südafrika, Hein Möllers (ISSA Bonn) über regionale Zusammenarbeit in der SADOG, Peter Robinson (Wirtschaftskonsulent, Harare) über Zimbabwe,
Baiculescu und Reinhard Zeilinger (Geograph, Wien) sowie Elke Anrens (Soziologin, Berlin) über Angola und Mosambik. In einem dritten, „Kriegsalltag – Friedensalltag“ überschriebenen Teil kommen auch Autor/innen aus der Region zu Wort. Gulamo Tajú' und Ana Joäo da Silva schildern das interne Flüchtlingsproblem in Mosambik; Ruth Weiss berichtet über Frauen in ihrer Wahlheimat Zimbabwe; Sebastian Kasack und Rainer Schwenzfeier haben Angola beziehungsweise Zimbabwe (aus diesen Ländern berichten sie hier) in längeren Arbeitsaufenthalten kennen gelernt; Albie Sachs, ein prominenter Jurist des südafrikanischen ANC, schließt den Band mit einem sprühenden Essay über die Chancen einer nationalen Kultur jenseits der Apartheid, der in dem Zitat eines ungenannten „Poeten und Soldaten“ aus Mosambik gipfelt: „Black ist beautiful brown ist beautiful, white ist beautiful.“ Zum guten Ende Optimismus, wenn auch politisch kaum verbindlicher!
Berlin, Franz Ansprenger
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