Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, 766 S., Wallstein, Göttingen 2003.

Nicolas Berg hat mit durchdringender Fragestellung ein bahnbrechendes Buch zum Verständnis der Bundesrepublik Deutschland geschrieben. Er führt die Auseinandersetzungen ums historische Bewusstsein der im Bann von Kriegsschuld und Völkermord entstandenen zweiten deutschen Demokratie auf eine Ebene, von der aus die mentale Grundverfassung der Republik begreifbar wird. Zwei Beobachtungslinien leiten die Einsicht: Zum einen geht es um Historiker und historiografische Texte, zum anderen um die deutsch-jüdische Konstellation. Warum ausgerechnet die Historiker? Weil sie, für den Abstand nehmenden Interpreten, Bewusstseinspolitiker sind, die wohl ihr Mandat aus strenger Sachlichkeit und privilegierter Expertise ableiten, jedoch dabei sozialen Emotionen den sublimen Ausdruck geben, der für den Gemeinschaftsglauben einer Gesellschaft und damit für den Kollektivhalt einer politischen Ordnung schlechthin unentbehrlich wird, wo die säkulare Moderne die Religion in die Schranken der Konfession gewiesen hat. Und warum der Bruch zwischen deutschen und jüdischen Blickwinkeln? Weil sich hierin die größte Nähe und die fernste Distanz zwischen zwei kollektiven Befangenheiten äußert, die als Täter und als Opfer unwiderruflich den Holocaust, den Gewaltexzess im Gedächtnis tragen, von dem die Nachkriegszeit ausging. Im Kontrast der jüdischen Erfahrung entblößen die Deutschen bis heute immer wieder versteckte und verborgene, unausgesprochene, teilweise auch unverstandene Schattenseiten ihres politischen Selbstverständnisses und die Historiker geraten im Streit der kollidierenden Betroffenheiten an die Grenzen ihres Anspruchs auf universelle Erkenntnis und Moral.

Nicolas Bergs schonungsloser Betrachtung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft ist eine Provokation zu eigen, da er die von Historikern zumeist behauptete Unabhängigkeit der Disziplin relativiert. Er trifft den Nerv des zentralen akademischen Selbstwertgefühls, das darauf aus ist, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen zu wollen. Der Autor versucht sich einleitend gegen vorhersehbare Einwände zu wappnen. Eingedenk der „Missverständnisse“ und „Kommunikationsbarrieren“ im „Austausch zwischen deutschen und jüdischen Wissenschaftlern und Intellektuellen“, vor dem Hintergrund auch des ‚Historikerstreits‘ und der „überzogenen Anforderung, mit dem Sprechen über die Judenvernichtung zugleich die richtige politische Gesinnung zu zeigen“, wirbt er vorsichtig für seine Methode, die Kontroversen „nicht ausschließlich wissenschaftsintern“ zu interpretieren, sondern die Wissenschaft selbst als „kulturelles Feld“ aufzufassen. Berg beansprucht, statt einer anklagenden Skandal- eine verstehende Problemgeschichte des Holocaustbewusstseins vorzulegen. Das Hinausgreifen über die geschlossenen Fachdiskurse ist jedenfalls das konstitutive Element der Studie. Und wenn darin auch, wie Berg schreibt, „weniger Ideologie unterstellt“, „sondern stärker die lebensgeschichtliche und generationelle, mithin also historisch gewordene Perspektive der Historiker ermittelt“, gewissermaßen also eine ‚Historisierung‘ der Historiker geleistet werden soll, so geht es doch im Kern um eine rückblickende Rangabwertung wissenschaftlicher Autonomie. Berg verwendet die milde Metapher eines archäologischen Verfahrens. Seine Herangehensweise bleibt dennoch der pointierten Kritik verpflichtet, genauer gesagt: Der Kritik wiederholter Ausgrenzung jüdischer Perspektiven, die Irritation erregten, aus dem Kanon dessen, was nach herrschender Meinung als „wissenschaftlich“ zulässig und wertvoll gelten durfte.

Neben Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter, Hermann Heimpel, Reinhard Wittram und vielen anderen, die nicht zum ersten Mal im Zusammenhang einer misslungenen „Vergangenheitsbewältigung“ besprochen werden, legt Berg, Winfried Schulze zitierend, großen Nachdruck auf die „strategische Persönlichkeit“ Hans Rothfels. Daran anknüpfend widmet er das Hauptaugenmerk dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München. Diese Auswahl ist die zweite Provokation. Um Rothfels’ Haltung am Ende der Weimarer Republik begann infolge von Ingo Haars „Historiker im Nationalsozialismus“ vor zwei Jahren eine heftige Kontroverse, bei der Heinrich August Winkler seinen Lehrer gegen den Vorwurf in Schutz nahm, er habe Sympathien für das NS-Regime gehegt. Für die Bundesrepublik jedoch gilt der vom Judentum zum Protestantismus konvertierte und dennoch als Jude vertriebene Historiker, der Anfang der 50er Jahre aus den USA zurückkehrte, als überragender Wegbereiter der damals angefeindeten zeitgeschichtlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Nicolas Berg zeigt Rothfels nun als Alibi-Emigranten, der unter dem Schutz der amerikanischen Staatsbürgerschaft den alten deutschen Patriotismus „reimportierte“: „Rothfels etablierte den allgemeinen apologetischen Reflex der Deutschen nach 1945 als Wissenschaft“, lautet das harsche Urteil. Auch das IfZ, dem Rothfels als Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte seit 1953 und seit 1962 als Vorsitzender des Beirats nahestand, gilt gemeinhin als Instanz einer pädagogisch inspirierten und dabei zuverlässig nüchternen Aufhellung der nationalsozialistischen Zeit. Doch eben jenes „vergangenheitspolitische Grundgesetz“ der „Nüchternheit und Distanz“ weckt Nicolas Bergs Misstrauen. Und mit Hilfe der Instituts-Akten kann er nachweisen, dass die IfZ-Mitarbeiter wiederholt Historiker abqualifizierten, deren Schriften sie mit dem Makel des Emotionalen behaftet sahen und die sie der Anklage der Deutschen bezichtigten. Dazu zählten insbesondere die Arbeiten von Gerald Reitlinger, Léon Poliakov und Joseph Wulf, deren Gemeinsamkeit darin bestand, die Judenverfolgung früh ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Die ersten Arbeitspläne des IfZ kreisten währenddessen zunächst um die Geschwister Scholl, Goerdeler, den 20. Juli 1944, spiegelten mithin, wie Hans Buchheim zugab, die persönlichen Erinnerungsinteressen deutscher Zeithistoriker, denen es beim Widerstandsthema explizit um einen internationalen Ansehensgewinn für Deutschland ging. Dabei blieb es indes nicht. Mit dem „Gerstein-Bericht“ über die Vergasungen in Treblinka, Belzec und Majdanek im ersten Heft der Vierteljahrshefte 1953 und mit der Veröffentlichung der Memoiren von Rudolf Höß, Lagerkommandant von Auschwitz, durch das IfZ im Jahr 1958 wurde der Holocaust ebenso prominent behandelt wie in der Gutachtertätigkeit von Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick für den Frankfurter Auschwitz-Prozess, die unter dem Titel „Anatomie des SS-Staates“ erschien. Nicolas Berg ortet hier Ursprünge einer spezifischen Form strukturhistorischer Sicht auf die Verbrechen, die mit der Täteroptik verwoben ist. Die vorgebliche Anonymität bürokratischer Apparate im NS-Staat und der unaufhaltsame Selbstlauf einmal angestoßener Prozesse hin zur ‚Endlösung‘ tauchte zuerst in den Rechtfertigungsversuchen von Tätern auf. Die moralisch indifferente „Struktur“ gerät dabei zum Platzhalter für zurechenbare Handlungsverantwortung. Im ‚System‘ erscheinen die Personen, die es antrieben, verschluckt. Berg analysiert mit bestechender Genauigkeit, wie dieses Motiv aus den Äußerungen eines Rudolf Höß, Walter Frank, Werner Best oder Albert Speer hinüber wandert in den geschichtswissenschaftlichen Diskurs bei Hans Buchheim, Martin Broszat oder Hans Mommsen. In Anlehnung an Ulrich Herberts Best-Biografie schildert Berg, wie der vormalige SS-Kader dem Institut für Zeitgeschichte als Fachmann für den Polizeiapparat diente. Broszat wiederum beeindruckte die „exakte Sachlichkeit“ des Höß-Berichts und er stellte den Auschwitz-Kommandanten als einen Beamten der Vernichtung dar, der von keinerlei persönlichem Ressentiment oder ideologischem Hass auf Juden getrieben gewesen sei. Jüdische Autoren wie Wulf, der unter Höß Häftling in Auschwitz gewesen war, betonten dagegen den Antisemitismus der Täter, was Broszat dann als polemisch und unwissenschaftlich verwarf.

Nicolas Berg gelingt es, den von deutschen Zeithistorikern eingenommenen Habitus der Überlegenheit zu entthronen. Anstelle des von Broszat in seinem Briefwechsel mit Saul Friedländer bemühten Gegensatzes zwischen gefühlsbetontem Gedenken auf jüdischer und sachlicher Historiografie auf deutscher Seite, spricht Berg treffend von „zwei in die Wissenschaft hinein verlängerte[n] Gedächtnissen“. Dasjenige des 1926 geborenen Martin Broszat, der im Nationalsozialismus, analog eigener Jugenderinnerungen, später ein starkes Moment der Überwältigung, nicht der freiwilligen Täterschaft der Deutschen sah, wird zum Exempel einer „Mitläufer-Erzählung“ erklärt. Diese ad personam gerichtete Invektive ist gewiss überflüssig. Das Lebenswerk eines Historikers, der gegen den nationalen Konservatismus darauf bestand, die Deutschen sollten sich ihren selbstkritischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit nicht ausreden lassen, ist unter einer so schmalen These nicht zu subsumieren. Auch anderen wie Karl-Dietrich Bracher oder Golo Mann wird Nicolas Berg nicht gerecht. Ihre Porträts, vor allem ihre intellektuelle Entwicklung geraten eigentümlich blass. Verbunden mit dieser Schwachstelle ist Bergs stark paradigmatisches Interesse. Er vernachlässigt die chronologische Einordnung seiner Quellen und die verlaufslogische Darstellung des Geschehens. Dem Leser begegnet beispielsweise die Kontroverse zwischen Joseph Wulf und Martin Broszat in mehreren Kapiteln unter verschiedenen Aspekten, was den Zugang zu den Handelnden nicht erleichtert, sondern erschwert.

Nicht nur am Fall von Martin Broszat zeigt sich eine Kehrseite des Erinnerungsparadigmas, dem Berg sehr entschieden folgt und das seiner Arbeit einen unnötig apodiktischen Zug mitgibt, wo der Autor bemüht ist, sein Material auf einen alles sammelnden Begriff zu bringen. Der Gedächtnisbegriff aber gerät zum Problem, wenn die kulturelle Prägung der Historiker nicht nur für das perspektivische Verstehen des Geschichtsbewusstseins fruchtbar gemacht, sondern darüber hinaus gewissermaßen zur Norm der Geschichte selbst erhoben wird. Wo Geschichte nichts als Gedächtnis ist, droht der Mensch auf seine nationale Agenda festgelegt zu werden. Die Ethnisierung des öffentlichen Gedenkens, die im Fahrwasser der Identitätspolitik seit den 80er und 90er Jahren erkennbar ist, steht warnend vor Augen.

In der Hauptsache erwirbt sich Nicolas Berg das immense Verdienst, den „Hohlraum der Rede“ (Adorno) zu öffnen, der sich inmitten der jahrzehntelangen deutsch-jüdischen Auseinandersetzungen um den Holocaust gebildet hat und in den schon neue Vorwürfe eingeflossen sind. Er beleuchtet, welche Emotionen sich auf deutscher Seite hinter dem Pathos der nüchternen Wissenschaft verbergen. Er kritisiert dabei von den Historikern gerade diejenigen, die sich am systematischsten und andauernsten mit der NS-Vergangenheit beschäftigt haben, und das mag Unwillen hervorrufen. Doch Verständnis und Verständigung sind anders nicht zu haben.

Berlin, Oliver Schmolke

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