Trotz Wahlreformkampagne, Erster Internationale und starker republikanischer Bestrebungen galten die Jahre nach 1850 in der englischen Arbeitergeschichte lange als Bruch mit dem als Höhepunkt der politischen Arbeiterbewegung präsentierten Chartismus der 183Oer und 1840er Jahre. Eine Relativierung des Klassenbegriffs und eine Neubewertung des Chartismus haben jedoch in der neueren Forschung zunehmend Kontinuitäten über die Jahrhundertmitte hinaus hervortreten lassen. Wie die vorliegende Sammlung zeigt, bestätigt diese "neue" Sichtweise die Aktualität eines deutschen Historikers, der sich vor einem halben Jahrhundert dieser Thematik widmete: Gustav Mayer, durch Schriften zur deutschen Arbeitergeschichte und eine glänzende Engels-Biographie bekannt, hatte 1937 in England Zuflucht gefunden, nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung zur Emigration gezwungen worden war. Dort legte er eine umfangreiche, kommentierte Quellensammlung zur Geschichte der englischen Arbeiterbewegung an, die er aber vor seinem Tod (1948) nicht mehr veröffentlichen konnte. Ein Großteil der Dokunente liegt nun in einer gemeinschaftlich von englischen und deutschen Historikern erstellten Edition vor, die für die Geschichte der englischen Arbeiterbewegung und die deutsch-englische wissenschaftsgeschichte gleichermaßen von Interesse ist. Dies verdankt sich den Herausgebern Breuilly, Niedhart und Taylor, die Mayers Konzeption für die Auswahl der Dokumente vorstellen und ihre Aktualität im Rahmen der gegenwärtigen Forschungsdiskussion herausarbeiten. Entsteht aus den Quellentexten ein detailliertes Bild der politischen Organisationen und Forderungen nach 1850, repräsentieren die Einführungen zu den fünf Sektionen des Buches den neuesten Forschungsstand zum Verhältnis von Arbeiterbewegung und Liberalismus: Weit davon entfernt, bJoßes Anhängsel der Liberalen Partei zu sein, blieb in der Reformbewegung das chartistische Erbe sowohl in den öffentlichen Darstellungsformen als auch in den Inhalten lebendig, eine eigenständige Programmatik der Reformer aus der Arbeiterschaft stets erkennbar. Mayers Auswertung zeitgenössischer Zeitschriften und einschlägiger Manuskriptsammlungen gibt der Edition selbstverständlich Grenzen vor. So scheint er kaum am reichhaltigen Schrifttum freidenkerischer und unorthodoxer religiöser Gruppierungen interessiert gewesen zu sein; die bedeutenden Wechselwirkungen zwischen religiösem und politischem Radikalismus, ohne die sich die Reformbewegung nur unvollständig erklären läßt, bleiben weitgehend ausgeblendet. Im Mittelpunkt der Quellensammlung steht die Agitation für die Wahlreform vor 1867, ergänzt um Dokumente zu internationalen Solidaritätsaktionen der britischen Arbeiterschaft und zum Zerfall der organisierten Reformbewegung nach 1868. Trotz dieses bedingtermaßen "traditionellen" Zuschnitts der Auswahl geht der Wert der Quellen aber durchaus über Mayers eigene Interessen hinaus. Gerade gegenwärtig intensiv betriebene Studien zur Entfaltung des Klassenbegriffs dürften reichhaltiges Material finden in Dokumenten wie dem Bericht über ein spät-chartistisches Treffen von 1858, auf dem über eine "union between the middle and working dlasses" zum Zweck einer Wahlreform gestritten wurde. Immer wieder zeigt sich an solchen Fällen die auch in neueren sprachgeschichtlichen Ansätzen häufig vernachlässigte Überformung eines sozialanalytischen Vokabulars durch strategische Erwägungen. Eine chronologische Tafel und der trotz kleinerer Fehler sehr hilfreiche biographische Anhang erleichtern den Zugang zur überfälligen Edition dieser lange ihrer Entdeckung harrenden Quellensammlung.
Darmstadt, Detlev Mares
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