Alfred Bürgin: Zur Soziogenese der Politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschichtliche und dogmenhistorische Betrachtungen, 426 S., Metropolis, Marburg 1993.

Die Begriffe Politische Ökonomie, Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre sind heute weitgehend zu Synonymen geworden. Se wurden als Bezeichnungen für eine wissenschaftliche Disziplin verwandt, die mit der globalen Durchsetzung marktwirtschaftlicher Verhältnisse geschaffen wurde. Für Bürgin ist diese Disziplin in universalhistoniseher Perspektive an die Existenz bürgerlicher Wirtschaft und Gesellschaft sowie im engeren Sinne an kapitalistische Produktionsverhältnisse gebunden.(2l) Sie beschäftigt sich mit der Analyse und Theorie bürgerlicher Ökonomie. Die Geschichte der Politischen Ökonomie hat wiederum die Reflexion dieser Analyse vor dem Hintergrund des Wandels bürgerlicher Wirtschaft und Gesellschaft zur Aufgabe.

Eine explizite Wirtschaftstheorie setzt nach Bürgin die Vorstellung einer Autonomie der Ökonomie als ein selbstätiger, sich selbst regulierender, gesetzmäßiger Mechanismus marktwirtschaftlicher Vorgänge voraus, in dem sich die Individuen durch Arbeitsleistungen zu bewähren, sich ihm anzupassen oder unterzuordnen haben. Sie setzt im wesentlichen ein individualistisches, Nutzen maximierendes Menschenbild voraus, das als unwandelbar angesehen wird.(17) Erst diese spezifische Auffassung der Ökonomie gestattete es, sie als isolierbares wissenschaftliches Objekt zu fassen und sie einer eigenen wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen. Dennoch ist für den Verfasser eine als autonom gedachte Wirtschaftswissenschaft genauso ein geschichtliches Resultat und damit dem geschichtlichem Wandel unterworfen wie alles meta-ökonomische Denken zuvor.(25)

Bürgin zeigt in seiner historischen Darlegung der Soziogenese dieser Wissenschaft, daß der Begriff Politische Ökonomie im 18 Jahrhundert zunächst in bewußter Abgrenzung zur aristotelischen Unterscheidung von Politik und Ethik entstanden ist, gleichwohl aber wichtige Momente beibehielt.(11) Adam Smith verband mit "political economy", als einer science for the statesman and legislator", noch die nie endende Aufgabe der menschenwürdigen Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Bewältigung des Prozesses der kapitalistischen Entwicklung war eine politische Aufgabe und bedurfte als solche einer klugen Politik, das heißt, eine im Gesamtinteresse aller Teilnehmer geführten Pohitik.(ls) Alfred Marshall schlug dann Ende der 1870er Jahre vor, den Begriff "political economy" zugunsten des Begriffs economics" fallenzulassen. Er bezeichnete damit einen fundamentalen Wandel im Grundverständnis dieser Disziplin. Ihm erschien der Ausdruck "politisch" identisch mit dem Ausdruck "parteilich" und somit als unangemessen, die Ökonomie als Wissenschaft an die Maßstäbe setzenden Naturwissenschaften heranzuführen und sie zu professionalisieren. Damit war nach Ansicht Bürgins dem Prozeß der Enthistorisierung, der Enthumanisierung und der Entgesellschaftung der Wirtschaftswissenschaften und folgerichtig dem Verlust einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, die die heutige Situation dieser Wissenschaft neoklassischen Zuschnitts weitgehend kennzeichnet, Tür und Tor geöffnet. Unter Enthistorisierung versteht er einen Prozeß, der auf die Verdrängung eines historischen Denkens, das die Gegenwart noch in ihrem geschichtlichem Entstehungszusammenhang und damit in ihrer sozialen und politischen Problematik zu erfassen suchte, abzielt.

Daher plädiert Bürgin für eine Dogmengeschichte, die die Aufgabe hat, die Grundlagen und Voraussetzungen der ökonomischen Lehren sowie deren Gegenstand und Methoden kritisch zu reflektieren. Denn eine ökonomische Theorie, mag sie noch so abstrakt und mathematisiert sein, beinhaltet und reflektiert immer auch eine gesellschaftliche Situation oder Position, ein Interesse, eine Ideologie, ein Herrschaftsverhältnis oder eine Herrschaftsausübung. In der Nachfolge Max Webers versucht Bürgin deswegen, eine Wirtschaftsgeschichte mit einer Dogmengeschichte - hier: von der griechischen Polis bis zu Adam Smith und den Begründern der ökonomischen Klassik - zu verbinden. Er leistet mit dem vorliegenden Band eine seltene Verbindung von wirtschaftshistorischem und dogmengeschichtlichem Wissen, das als eine Antithese zur sonst vorherrschenden Whig - history der ökonomischen Theoriegeschichte gelesen werden kann. Obwohl das Buch konzeptionell nicht sehr systematisch angelegt ist, zeigt es doch die lebenslange Beschäftigung des Autors mit den Problemen einer adäquaten Wissenschaftsgeschichte der Ökonomie.

 

Düsseldorf, Heino Heinrich Nau

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