Campbell, Colin/Rockman, Bert A. (Hrsg.): The Clinton Presidency. First Appraisals, 408 S., Chatham House Publishers, Chatham, NJ 1996.
Am 3. November 1992 versagten die amerikanischen Wähler zum vierten Mal in diesem Jahrhundert einem amtierenden Präsidenten die Wiederwahl. Der Amtsinhaber und Republikaner George Bush unterlag dem Kandidaten der Demokratischen Partei, Bill Clinton, mit 38 % zu 43 % der Wählerstimmen. Zahlreiche Analysen interpretierten dieses Wahlergebnis nicht nur als negatives Votum über die Person des Amtsinhabers, sondern auch als Absage der amerikanischen Wähler an die Praxis des divided government. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges waren Kongress und Weißes Haus in der Regel von unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheiten beherrscht worden. Die Wahl des Demokraten Bill Clinton zum 42. Präsidenten der Vereinigten Staaten signalisiert aus dieser Perspektive eine „Kehrtwendung“ der amerikanischen Wähler. Diese hätten in zunehmendem Maße Zusammenhänge zwischen divided government und der allseits beklagten Politikblockade in der amerikanischen Politik gezogen und mit der Herstellung eines unified government der Hoffnung auf entschlossene politische Führung und gesteigerte Problemlösungskapazität ihres politischen Systems Ausdruck gegeben.
Die Autoren des vorliegenden Bandes sind sich einig darin, dass Bill Clinton in seinen ersten beiden Amtsjahren diese Erwartungen enttäuscht hat. Uneinigkeit herrscht lediglich über das Ausmaß der Enttäuschung. Während Barbara Sinclair eher die Erfolge und die Produktivität des 103ten Kongresses betont (S. 108), zieht Charles O. Jones eine ambivalente Bilanz. Zwar habe Clinton einige legislative Erfolge vorzuweisen, insbesondere seien Fortschritte beim Abbau des Haushaltsdefizites gemacht worden, aber mit dem Scheitern der Gesundheitsreform und der Untätigkeit im Bereich der Sozialpolitik seien wichtige Ziele entweder nicht erreicht oder nicht in Angriff genommen worden (S. 41). George C. Edwards und Jones betonen, dass in der subjektiven Einschätzung der Öffentlichkeit die negativen Aspekte überwiegen. Clinton habe seine äußerst niedrigen Zustimmungswerte im Verlauf der ersten beiden Jahre seiner Amtszeit nicht steigern können, zeitweise sei sogar ein Absinken zu beobachten gewesen (S. 36,S. 236f.). Letztlich ist die Kernfrage, die sich durch die Mehrzahl der Beiträge zieht, die nach den Gründen für diese Negativbilanz vor dem Hintergrund eines unified government. Die im vorliegenden Band dargebotenen Antworten lassen sich in zwei „Schulen“ scheiden.
Die Mehrzahl der Autoren betont den persönlichen Faktor, der traditionellerweise und nicht erst seit der grundlegenden Arbeit von James David Barber einen breiten Raum in der Analyse des Präsidentenamtes einnimmt. Campbell zeichnet in seinem Beitrag das Bild eines Anti-Institutionalisten, der seine Präsidentschaft ähnlich einer fortwährenden Wahlkampagne führt und die dem amerikanischen Präsidenten zur Verfügung stehende Organisationsgewalt im exekutiven Bereich nicht zu nutzen weiß (S. 75f.). David M. O’Brians Analyse der Rechtspolitik der Clinton-Administration betont die Pannen, die bei der Ernennung von politischem Personal im Justizministerium unterliefen und die dem Ansehen Bill Clintons bereits sehr früh Schaden zugefügt hätten. Joel Aberbach und George C. Edwards III. sehen im Fehlen eines klaren programmatischen Profils das Grundproblem der Clinton-Administration. Clinton sei im Wahlkampf als sogenannter new democrat aufgetreten, der traditionelle Werte und eine zurückgenommene Rolle des Staates vertrat, habe sich dann aber in einer Reihe von frühen Entscheidungen als old democrat gezeigt, der Staatsinterventionismus und Minderheitenrechte zum Kernbestand seiner Politik macht. Graham K. Wilson rückt in seiner Analyse der Beziehung zwischen Clinton und den Interessengruppen die strategischen Schwächen Clintons, das Oszillieren zwischen Konsenssuche und Konfliktbereitschaft, in den Mittelpunkt. Für Paul J. Quirk und Joseph Hinchcliff ist das Misstrauen der Amerikaner hinsichtlich der Integrität Clintons das zentrale Problem seiner Präsidentschaft. All diesen Positionen zufolge liegt in der Person des Amtsinhabers die Erklärung für die bescheidenen Resultate seiner ersten beiden Amtsjahre.
Bert Rockman widerspricht in seinem Beitrag dieser Position am heftigsten. Die fortdauernden Probleme der Clinton-Administration sieht er in strukturellen Faktoren begründet (S. 351), eine Perspektive, die von Barbara Sinclair, Harold W. Stanley sowie James Dean Burnham geteilt wird. Fragt man, um welche strukturellen Faktoren es sich handelt, so kristallisieren sich drei Bestimmungsgründe der gegenwärtigen amerikanischen Politik heraus: erstens der Zustand der öffentlichen Finanzen, der den Gestaltungsspielraum der Politik begrenzt und diese zwingt, Lasten aufzuerlegen, wo Wohltaten erwartet werden; zweitens die Qualität des öffentlichen Diskurses, geprägt von der Logik der Massenmedien, die die Erörterung komplexer Sachverhalte nicht zulassen, die der Politik nicht die Chance geben, den Wähler von der Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen zu überzeugen und Unterstützung hierfür zu mobilisieren (Sinclair); drittens eine sehr weitgehende Verschiebung von Wählerkoalitionen, die insbesondere James Dean Burnham in seiner Analyse der Kongresswahl von 1994 dokumentiert. Einer Mehrheitskoalition, die Burnham mit den Begriffen white, protestant, middle class bezeichnet, stehe eine tief gespaltene Koalition verschiedener ethnischer beziehungsweise soziostrukturell definierter Minderheiten gegenüber, die das Wählerreservoir der Demokratischen Partei bildet und die die Demokraten in eine strukturelle Minderheitenposition bringt. Eine Minderheitenposition, die letztlich auch nicht durch Bill Clinton aufgebrochen werden konnte, der über den durchschnittlichen Stimmenanteil der Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei seit 1968 nicht hinauskam und dessen Wahl in sehr weitgehender Weise durch den Erfolg Ross Perrots bestimmt war. Die Wählerkoalitionen, die Burnham beschreibt, sind alles andere als neu, sondern haben seit Ende der 60er Jahre die amerikanischen Präsidentschaftswahlen bestimmt. Die Kongresswahlen von 1994 sind deswegen ein „Mega-Event“ in der amerikanischen Politik, weil die bis dato nur im nationalen Kontext der Präsidentschaftswahlen wirksamen Wählerkoalitionen zum ersten Mal die bisher von regionalen Faktoren bestimmten Kongresswahlen prägten. Ihre Bedeutung für die Clinton-Präsidentschaft ist weitreichend und bitter: Die Wahl von 1994 verdeutlicht, dass Clinton keine Mehrheit im nationalen Rahmen besitzt und nie besessen hat.
Der von Campbell und Rockman herausgegebene Band vereinigt Beiträge einiger führender Politikwissenschaftler im Bereich der amerikanischen Politik beziehunsgweise der amerikanischen Präsidentschaft. Sie alle standen vor dem Problem einer äußerst dünnen empirischen Basis. Die Mehrzahl der Beiträge löst dieses Problem gut und bietet einen Mix aus politischer Geschichtsschreibung, theoretisch angeleiteter Analyse, begründeter Wertung sowie informierter und anregender Spekulation. Die Schwächen des Bandes sind eher den Herausgebern anzulasten und liegen in der Vielzahl der Redundanzen und dem Umfang des Buches. Hier hätte das gutgetan, was Bill Clinton von den Autoren für die zweite Hälfte seiner Amtszeit nahegelegt wird: eine stärkere Fokussierung.
Mannheim, Thomas Zittel
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