Churchill, Robert Paul (Hrsg.): The Ethics of Liberal Democracy. Morality and Democracy in Theory and Practice, 209 S., Berg, Oxford/Providence 1994.
Der vorliegende Band fasst zuvor verstreut veröffentlichte Beiträge zu einer vom „Institute for Advanced Philosophical Research“ organisierten Konferenz zum Thema „The Ethics of Democracy“ im August 1991 zusammen. Damit reiht er sich thematisch in zahlreiche Versuche in den letzten Jahren ein dem politischen Liberalismus, angeregt durch die Auseinandersetzung mit kommunitaristischen Positionen, ein neues – und das heißt in diesem Fall: ein demokratischeres – Profil zu geben. Zu diesem Zweck spannt sich das Interesse der Autoren über die Stufen einer normativen Begründung der fundamentalen Prinzipien der liberalen Demokratie, über Ansätze zu einer institutionellen Übersetzung dieser Prinzipien bis zu Fragen der Anwendung in konkreten policies. Wegen dieser Anlage darf der Band im ganzen auch angesichts der glücklichen Tatsache, dass an gehaltvollen Publikationen zu diesem Thema eigentlich kein Mangel herrscht, durchaus einige Aufmerksamkeit beanspruchen: sie nötigt dazu, Fragen der (prozeduralen) Legitimität wie der Effizienz und sachlichen Angemessenheit politischer Entscheidungen im Zusammenhang aufzugreifen und als Bezugspunkte einer demokratischen Institutionenreform präsent zu halten (S. 2f.). Entsprechend bemühen sich die Beiträge im ersten Teil des Bandes, indem sie dem Problem der Rechtfertigung der Basisnormen einer liberaldemokratischen Gesellschaft nachgehen, zunächst um eine Auslegung des Prinzips der Autonomie (Graham und Hardin), des Faktums des Pluralismus (Howard) und des Neutralitätsgebots staatlicher Politik (Weale), in der das liberale Prinzip individueller Freiheit und das demokratische Prinzip kollektiver Selbstbestimmung so verklammert werden können, dass eine homogene Rechtfertigungsbasis der liberalen Demokratie sichtbar wird. Dabei treten zunächst interne Spannungen im Begriff der liberalen Demokratie noch einmal deutlich hervor, so, wenn Hardin darauf aufmerksam macht, dass weder die libertäre noch die kontraktualistische oder utilitaristische Tradition über einen Begriff der Autonomie verfügt, der mit der Idee demokratischer Legitimität ohne weiteres kompatibel wäre (S. 35ff.):
„Democracy must therefore be justified, i f at all, systematically, not individually“ (S. 43), so dass sich ein Rechtfertigungszusammenhang nur indirekt herstellen lässt, über die Schutzwirkung nämlich, die institutionelle Mechanismen der kollektiven Entscheidungsfindung wie die arbeitsteilige Organisation der Staatsapparate, das Prinzip der Gewaltenteilung, das Neutralitätsgebot staatlicher Politik und der gesellschaftliche Pluralismus auch bezüglich der Ansprüche auf individuelle Autonomie entfalten (so auch Graham, S. 29f.). Während Graham und Hardin allein auf diese Weise sichergestellt sehen, dass den liberalen Momenten der liberalen Demokratie ausreichend Geltung verschafft wird, ist zur anderen (demokratischen) Seite hin dann dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht mit der Idee kollektiver Selbstbestimmung kollidieren. Aus diesem Grund nimmt zunächst Howard kommunitaristisch inspirierte Korrekturen an der Idee des politischen Liberalismus vor, indem er das „Faktum des Pluralismus“ über die Vorstellung eines „ontologischen Liberalismus“ (S. 76ff.) mit dem Begriff politischer Gerechtigkeit so vermittelt, dass eine „shared conception of justice“ als aus unterschiedlichen substantiell-ethischen Positionen hervorgehend gedacht werden kann (S. 77). Und deshalb sieht sich Weale anschließend zu Unterscheidungen auch im Begriff der Neutralität, zwischen einer „consequential“ und einer „justificatory neutrality“ (S. 83f.) genötigt, um klarzumachen, dass sich auch der deontologische Liberalismus nicht neutral zum Rechtfertigungsprinzip der Autonomie selber verhalten kann: Die Pointe dieser Überlegung liegt dann in dem Nachweis, dass „liberal society thus has a vague but substantive communal purpose“ (S. 89), einen Zweck, den sie nur verfolgen kann, wenn sie auch die sozialen und politischen Selbstimplikationen der Idee der individuellen Autonomie ernstnimmt und institutionelle Arrangements auszeichnet, in „which individual rights are guaranteed and in which the social sources of autonomy that grounds these rights are also guaranteed (Herv. i. 0.)“ (S. 92).
In dieser Bewegung wird der Begriff der Autonomie so weit an das demokratische Ideal kollektiver Selbstbestimmung im Medium deliberativer Politik herangerückt, dass dieses Modell demokratischer Politik im zweiten Teil des Bandes nunmehr als Bezugspunkt von Überlegungen zur Reform des Systems politischer Institutionen fungieren kann. Vor allem der Beitrag Fishkins, in dem er seine Vorstellungen zu institutionellen Reformen, die geeignet sein könnten, „to bring deliberation to democracy“, noch einmal knapp zusammenfasst, lässt sich davon ganz explizit leiten; und auch die Überlegungen Heldkes zu einer gemeinschaftsorientierten Reinterpretation des Rechts auf Meinungs- und Redefreiheit oder Sullimans Versuch einer moralisch konsistenten Auslegung zivilen Ungehorsams im Horizont eines den Gesetzespositivismus übergreifenden, moralisch inspirierten Rechtsdiskurses sind von der Idee einer deliberativen Demokratie zumindest informiert. Die Attraktivität dieser Idee, die Hirsebein gerade im Gegenlicht einer „zeremoniellen“, auf rituelles Wahlverhalten reduzierten Demokratie noch einmal deutlich hervortreten lässt, verdankt sich nicht zuletzt auch der Tatsache, dass in ihrem Licht ein irreduzibles Interesse an „guter“, sachlich angemessener und verantwortbarer Politik mit den grundlegenden Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität intim verbunden werden kann. Solche Nachweise lassen sich zweifellos am besten auf der Ebene einzelner policies führen; und auch dafür hält der Band anschauliche Belege bereit, wenn im dritten und letzten Teil schließlich Fragen der Drogenpolitik (Snow), der Außenpolitik am Beispiel der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung in den USA zum Golfkrieg (Myers) oder der Umweltpolitik (Gillroy) thematisch werden: So kann insbesondere Gillroy mit Blick auf das Anforderungsprofil ökologischer Politik, das sich in Reaktion auf den Risikocharakter umweltpolitischer Entscheidungen (S. 178f.) einstellt, zeigen, dass die bloß responsiv angelegte Politik in der reinen Wettbewerbsdemokratie den Anforderungen an verantwortliches Regierungshandeln unter Bedingungen von Unsicherheit kaum genügen kann – aus dieser Überlegung geht dann die Vorstellung einer „antizipatorischen“ Demokratie (S. 183) hervor, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre institutionell vermittelten Meinungs- und. Willensbildungsprozesse nicht mehr nur „want-regarding“, sondern darüber hinaus auch „ideal-regarding“ (S. 184f.) Züge aufweisen.
Insgesamt ist es Churchill gelungen, einen gut komponierten Band zusammenzustellen, der in der Lage sein sollte, die in den letzten Jahren wieder intensiver gewordene demokratietheoretische Diskussion mit zusätzlichen Impulsen zu versehen – dies nicht zuletzt deshalb, weil er wichtige Anregungen zusammenträgt, wie die Idee der deliberativen Demokratie auch auf institutioneller Ebene und mit Blick auf materiale Politiken Gestalt annehmen könnte.
Darmstadt, Rainer Schmalz-Bruns
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