Dussel, Konrad: Die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Die Tätigkeit der Rundfunk- und Verwaltungsräte von Südwestfunk und Süddeutschem Rundfunk 1949 bis 1969, 531 S., Nomos, Baden-Baden 1995.

In dieser Mannheimer Habilitationsschrift soll das Verhältnis von Rundfunk und Gesellschaft anhand der Tätigkeit der Rundfunk-Leitungs- und Kontrollgremien analysiert werden. Dabei stehen drei Sachkomplexe im Mittelpunkt des Interesses: die Gewährleistung einer „verzerrungsarmen“ (S. 12) politischen Information, die Ermittlung eines ausgewogenen Verhältnisses von Unterhaltung und Erbauung und schließlich die Förderung der ökonomisch-technischen Entwicklung des Rundfunks. Aufgrund des besonderen Entgegenkommens der Archivleitungen des Südwestfunks (SWF) und des Süddeutschen Rundfunks (SDR) werden diese beiden Sendeanstalten in der „goldenen Phase des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ (S. 14) – gemeint ist der Zeitraum 1949 bis 1969 – vergleichend untersucht. Die Studie besteht aus zwei großen Teilen. Im ersten geht es in systematischem Zugriff um Grundlagen, Voraussetzungen und Organisation der Gremientätigkeit, im zweiten wird „Anstaltsgeschichte aus Gremiensicht“ (S. 199) geschrieben.

Der erste Teil informiert zunächst über Idee und Praxis des öffentlich-rechtlichen Systems, das von den alliierten Siegermächten implantiert wurde, und über die Rolle der Rundfunk- und Verwaltungsräte darin; auch politisch bedingte Unterschiede der Verfasstheit der Sendeanstalten, der SWF gehörte zur französischen, der SDR zur US-Zone, kommen dabei in den Blick. Als „Determinanten“ (S. 45) der Anstaltsgeschichte werden die landespolitischen Voraussetzungen im deutschen Südwesten erläutert sowie – ganz wichtig – die finanziell unterschiedliche Basis von wohlhabenderem SWF und armem SDR, der wie der Hessische Rundfunk oder Radio Bremen darunter litt, dass es in der US-Zone mehrere Sendanstalten gab, die sich die finanziellen Einnahmen teilen mussten – ein allgemeines Strukturproblem der ARD, das auch in späteren Jahren durch einen Finanzausgleich nicht restlos zu beheben war. Sehr detailliert wird die Konstruktion und personelle Zusammensetzung der Gremien der beiden Rundfunkanstalten geschildert, wobei besonders auffällt, dass während des gesamten Untersuchungszeitraum die Generation der um 1900 Geborenen „immer dominant“ (S. 83) war, eine Beobachtung, die sich wohl auch für viele andere Sektoren der Wiederaufbau-Gesellschaft anstellen ließe.

Der Vergleich zwischen den beiden Anstalten gewinnt schließlich Profil durch die Gegenüberstellung der jeweiligen ersten Intendanten, des konservativen und CDU-nahen musischen Intellektuellen Friedrich Bischoff beim SWF und des aus dem Exil zurückgekehrten Staatswissenschaftlers und ehemaligen Funktionärs des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) Fritz Eberhard (geboren als Hellmut von Rauschenplat), die außer ihrem Geburtsjahr 1896 wenig gemein hatten (S. 120). So wie die Intendanten der ersten Phase mussten auch alle anderen Mitglieder der Rundfunkgremien in den Alltag ihres Verwaltungs- und Kontrollhandelns erst allmählich hineinfinden, denn „Beziehungnetze“ (S. 137) waren ja nicht von vornherein gegeben; Dussel betrachtet vor allem die Parteilager und hält für den SDR die „unverhohlene Anerkennung“ der CDU für das „straffe Management“ der vom Verwaltungsratsvorsitzenden Alex Möller offenbar souverän koordinierten sozialdemokratischen Rundfunkpolitik fest (S. 148).

Im zweiten Teil der Studie zur „Anstaltsgeschichte aus Gremiensicht“ wird zunächst die mitunter (beim SWF z. B. 1951/52 und 1965/66) kontrovers geführte Diskussion um den Finanzhaushalt beleuchtet, danach geht es um die Diskussion der Einführung der UKW-Hörfunktechnik und des Fernsehens, des Werbefunks und Werbefernsehens Anfang der 50er Jahre und schließlich der Dritten Programme und des Farbfernsehens ein Jahrzehnt später. In einem „Zwischenfazit“ (S. 267) wird den Aufsichtsorganen der Anstalten bescheinigt, ihrer Rolle insgesamt durchaus gerecht geworden zu sein. Allerdings sei deren Entscheidungsspielraum ohnehin nicht zu überschätzen, da für alle genannten großen Entscheidungen die Anstöße von außen gekommen seien.

In weiteren Kapiteln des zweiten Teils werden die Stellungnahmen der Gremien zum Hörfunk- und Fernsehprogramm geschildert. Hier wird der eher spröden Materie der Sendeanstaltsbürokratie durch einige für die (politische) Kultur jener Zeit typische Beispiele Leben eingehaucht. Erwähnt wird der Kampf um die morgendliche „Rasiermusik“ (S. 281), bei der eine „Vertreterin des Erziehungswesens“ des SWF-Programmausschusses forderte, die Schlager durch Wander- und Volkslieder zu ersetzen und der Intendant Friedrich Bischoff Anfang der 50er Jahre „so manchen Schlager“ verbot (ebd.); interessant ist auch die Schilderung von dessen Kritik (1950) an einem politischen Kommentar, der „allzusehr den Widerstand der SPD gegen den Bolschewismus in der Ostzone herausgestellt“ habe (S. 305). Der heftig diskutierte Fall der Bach-Kantaten im ‚Bachjahr‘ 1950, deren Übernahme vom Leipziger Sender in der ARD nur vom Intendanten des SDR, Fritz Eberhard, mit prinzipiellen ‚antibolschewistischen‘ Argumenten sogar gegen das Mehrheitsvotum seines Rundfunkrats abgelehnt wurde (S. 316f.), wirft ein Streiflicht auf kulturelle Momente des Kalten Krieges, ebenso wie die Diskussionen über kritische Inhalte des berühmten Radio-Essays beim SDR, das von Alfred Andersch geleitet wurde. Auch beim Fernsehen gab es einigen Ärger um Programme, die nicht allen Gremienmitgliedern genehm waren. Als harmloses Beispiel sei genannt ein satirischer Beitrag des Düsseldorfer Kabaretts „Kom(m)ödchen“ über eine Stellungnahme der katholischen Bischöfe zur Mischehe 1958. Zum zeitgenössischen Skandal geriet ein Fall von verschleierter Zensur, für den der Intendant des SWF verantwortlich gewesen war. Bischoff hatte nämlich dafür gesorgt, dass ein Programm des Kabarettisten Wolfgang Neuss plötzlich durch eine fingierte ‚Tonstörung‘ abgebrochen wurde (S. 378); der „Spiegel“ berichtete über den Schwindel. Auch die Querelen um das politische Magazin „Report“ in den 60er Jahren, das allerdings weniger angefeindet war als „Panorama“, und einige weitere Zankäpfel werden aus der Sicht der beiden Sendeanstalten SDR und SWF geschildert. Für den nicht rundfunkspezialistisch interessierten Leser sind wohl gerade solche politischen Konflikte besonders interessant, aber sie werden bewusst nüchtern abgehandelt und manche ‚Rosinen‘ erschließen sich nur bei sehr konzentrierter Lektüre. Der Rundfunkhistoriker aber erhält über die Mechanismen und Geflechte der Gremientätigkeit eine Fülle von Informationen in einer bisher noch nicht gekannten Detailliertheit, und es bleibt nur zu hoffen, dass in einigen Jahren auch über die restlichen ARD-Anstalten Studien vorliegen, die in ähnlich dichter Aktenauswertung die „Konkretisierung der Arbeitsvollzüge“ (S. 15) im Alltag der Rundfunkproduzenten präsentieren.

Hamburg, Axel Schildt

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