Evers, Tilman (Hrsg.): Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 227 S., Nomos, Baden-Baden 1994.
Der Sammelband gibt die Beiträge einer Tagung über die Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa wider. Der erste Teil thematisiert die politischen Vor- und Nachteile des Föderalismus. Ähnlich wie Klaus Schubert und Tilman Evers rechnet Michael Bothe aus historischer Perspektive zu den desintegrativen Elementen föderalistischer Regierungssysteme die gewachsene Identität von Gruppen und Verbänden sowie das Beharrungsvermögen historischer Räume, zu den integrativen Faktoren dagegen den Wunsch, an einem großen Markt zu partizipieren, die militärische Verteidigung zu erleichtern, historische Einheiten wiederherzustellen sowie hegemoniale Bestrebungen von Gruppen und Verbänden. Systematisch spreche für den Föderalismus die Effizienz einer Dezentralisierung der Kompetenzen und Entscheidungen, die Erhaltung der historischen Vielfalt und Eigenart, der Minderheitenschutz und die erweiterte demokratische Partizipation, das Prinzip der Subsidiarität und die Sicherung der Freiheit durch die Eindämmung der Staatsgewalt. Demgegenüber würde die Kritik am Föderalismus die Effizienz und die demokratische, vereinheitlichende Wirkung des Zentralstaates hervorheben. Angesichts dieser widersprüchlichen Befunde käme es auf die historischen Rahmenbedingungen und die Problemlagen an, die über die Effektivität von Föderalismus oder Zentralismus entscheiden würden.
In einem zweiten Teil wird der Föderalismus in der neuen Bundesrepublik behandelt. Hans Peter Schneider untersucht die Bedeutung des Föderalismus für die deutsch-deutsche Vereinigung und die neue Bundesrepublik. Er hebt die Nachteile der mangelnden Beteiligung der westlichen und der – seinerzeit noch nicht wieder existierenden – ostdeutschen Länder am Einigungsprozess sowie die hohe finanzielle Abhängigkeit der neuen Länder vom Bund hervor und fordert für die Bewältigung der kommenden Probleme eine größere finanzielle Autonomie der Länder, eine Neugliederung mit größeren, leistungsfähigeren Ländern und ihre stärkere Beteiligung an europäischen Entscheidungen. Reinhard Lensch betrachtet den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern seit 1949 und betont ebenfalls, dass die Länder zwar zahlreiche Aufgaben, aber nicht die Möglichkeit der ausreichenden eigenständigen Finanzierung erhalten hätten, vielmehr in hohem Maße von den Zuweisungen des Bundes abhingen. Die neuen Länder hätten eine noch geringere finanzielle Autonomie als die alten Länder erhalten und seien durch den Einigungsvertrag in die Rolle der finanziellen Bittsteller gedrängt worden. Lensch plädiert weniger für die Übertragung der Finanzverfassung zwischen Bund und westlichen Ländern auf die östlichen Länder als für die Stärkung der Wirtschaftskraft der neuen Länder unter anderem durch Strukturförderungsmaßnahmen des Bundes sowie für eine größere Steuerautonomie der Länder; letztlich will er das Ziel der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse durch einen „kompetetiven“ Föderalismus ersetzen.
In einem dritten Teil wird das Verhältnis der Bundesländer zur Europäischen Gemeinschaft thematisiert. Ingeborg Berggreen sieht als ein Kernstück des Föderalismus die Kulturhoheit der Länder an, weist auf Tendenzen von Bund und EG hin, Kompetenzen von Bildungs- und Kulturpolitik zu zentralisieren beziehungssweise Mitspracherechte zu formulieren, und skizziert die Reaktion der Länder darauf. Uwe Leonardy thematisiert die Rolle der Länder in der Außenpolitik des Bundes. Er stellt die Verfahren ihrer Beteiligung an außenpolitischen Entscheidungen in den Fällen dar, in denen ihre Rechte berührt werden, und weist darauf hin, dass die Länder eine eigene Vertretung bei der EG in Brüssel eingerichtet haben. Leonardy plädiert weniger für ein Europa der Regionen als für ein Europa der Nationen mit Regionen, um besser der Gefahr eines Europa-Zentralismus vorbeugen zu können.
Die vierte Sektion behandelt die EG mit ihrer Politik von Zentralismus und Subsidiarität. Roland Bieber fordert, die EG demokratischer zu fundieren und genau zu regeln, bei welchen Problemen und auf welchen Ebenen sie tätig werden solle. In der Subsidiarität würden – wie auch Christian Calliess betont – gerade die Länder ein Betätigungsfeld der EU sehen; sie hofften gleichsam auf einen „doppelten Föderalismus“. Bieber wünscht jedoch, dieses föderalistische Prinzip weniger juristisch einklagbar zu fassen als symbolisch zu verstehen.
In der fünften und letzten Sektion wird nach den Realisierungsmöglichkeiten des Föderalismus in Mittel-Ost-Europa gefragt. Während Erhard Stölting feststellt, dass im Ostblock nach der Beseitigung des Kommunismus der alte Nationalismus wieder aufgelebt sei und er im Föderalismus eine Möglichkeit sieht, diesen Raum politisch zu organisieren, schildert Petr Fiala dagegen am Beispiel der Tschechoslowakei die mangelnden Erfahrungen dieses Landes mit dem Föderalismus. Die Teilung des Landes hat ihn in seiner Skepsis gegenüber der Einführung dieses Prinzips inzwischen bestätigt. Eine Leitfrage der Konferenz nach der Übertragbarkeit des Föderalismus in den europäischen Osten wird damit eher negativ beantwortet; zu stark scheinen die nationalen und autoritären Traditionen zu sein.
Insgesamt vermittelt der Tagungsband vor allem die systematischen Vor- und Nachteile des Föderalismus als staatliches Organisationsprinzip und weist auf verfassungspolitische Defizite in der BRD und EG hin. Die von Bothe erhobene Forderung, die Vor- und Nachteile des Föderalismus in ihren historischen Rahmenbedingungen, das heißt zum Beispiel den Verfassungstraditionen, der inneren Gliederung des Landes, seinen Trägergruppen et cetera, zu diskutieren, wird nicht weiter aufgenommen; sie ist jedoch – wie insbesondere die Sektion zu Osteuropa – verdeutlicht, notwendig, um jenseits einer Erörterung der systematischen Vorund Nachteile beziehungsweise Defizite auch aus politologischer Perspektive die Chancen des Föderalismus bewerten zu können.
Münster, Karl Ditt
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