Frierson, Cathy A.: Peasant lcons. Representations of Rural People in Late Nineteenth-Century Russia, 248 S., Oxford UP, New York/Oxford 1993.

Der Titel dieser an der Harvard University fertiggestellten und im Vergleich zur ursprünglichen Version stark veränderten Dissertation ist irreführend. Sie ist keineswegs als eine kulturhistorische Monographie konzipiert, welche die zahlreichen Ikonenbilder in den russischen Bauernhütten zum Gegenstand hat. Frierson geht es vielmehr vorrangig um eine „intellectual history“. Sie will anhand von Textinterpretationen und der Einbeziehung des jeweiligen sozialen und geistigen Umfelds, in dem sie entstanden sind, darstellen, wie russische Intellektuelle zwischen 1861 und 1900 verstärkt bemüht waren, den russischen Bauern zur Inkarnation russischer Kultur zu stilisieren und ihn damit zunehmend als Ikone erscheinen zu lassen.

Eine solche Themenstellung ist für die Forschung fraglos von Interesse, denn die Frage „Wer ist der russische Bauer?“ faszinierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gebildeten Schichten des Zarenreiches zusehends. Ausgelöst von der als tiefgreifenden historischen Einschnitt empfundenen „Bauernbefreiung“ wurde die Suche nach der „bäuerlichen Seele“ zu einem Schwerpunktthema in Kunst, Literatur, Wissenschaft und Politik. Frierson ist sich bewusst, dass sich die russische Intelligencija keine einheitliche Bauernikone schuf, sondern, um bei der Metapher zu bleiben, eine Ikonostase, auf der die Bauern in unterschiedlichen Rollen und von verschiedenen ideologischen Blickwinkeln aus porträtiert wurden. Die Entdeckung des russischen Bauern als dem „Anderen“, mit dem man zusammenlebte, ohne ihn richtig zu kennen, mündete dabei bald ein in die allgemeine Identitätssuche nach dem historischen Schicksal Russlands. Während liberale ‚Westler‘ hofften, unter ihrer Führung könne der mündig werdende Bauer Russland auf dem Weg zu einer modernen Bürgergesellschaft entscheidend voranbringen, idyllisierten slawophil gesinnte Intellektuelle und die Populisten das bäuerliche Leben und sahen in der Stabilisierung der patriarchal-kommunalistischen Dorfordnung die große Chance, den Krisen der Moderne und den negativen Folgen von Industrialisierung, Liberalisierung und Individualisierung zu entgehen.

Die Analyse des öffentlich ausgetragenen Diskurses über die „bäuerliche Seele“ ist damit eine Studie über soziale und politische Widersprüche. Dabei werden nicht nur die Konfrontations- und Traditionslinien in der russischen Intelligencija, sondern auch die große kulturelle Kluft deutlich, die den Bauern von den Gebildeten trennte. Denn trotz des eifrigen Bemühens, mehr über das russische Dorfleben zu erfahren, ging es vielen Intellektuellen nicht so sehr um eine sorgfältige Wahrnehmung und vorsichtige Bewertung sozialer Realitäten als vielmehr um die Projektion eigener Zukunftswünsche in eine Terra incognita, die sich wegen bislang fehlender ideologischer Inanspruchnahme für eine Sinnstiftung vorzüglich eignete. Desto größer war darum auch die Enttäuschung, als immer deutlicher wurde, dass die Bauern mit ihrer Logik einer Subsistenz- und Überlebensökonomie und ihrer häufig von Egoismus, Gewalt und Trunkenheit geprägten Lebensweise weit entfernt waren von den Harmoniebildern und optimistischen Zukunftserwartungen, die im zeitgenössischen Schrifttum immer wieder auftauchten. Aus diesem Grund wandten sich weite Teile der russischen Intelligencija mit Beginn des 20. Jahrhunderts bald anderen sinngebenden Problemfeldern zu, und mitunter schlug die erklärte Bauernphilie in Pessimismus und sogar harsche Abneigung um. Die russische Intelligencija teilte damit das Schicksal des Heldens in der Kurzgeschichte Anton Pawlowitsch Tschechows „Die Bauern“ (Muziki): Nach langer Abwesenheit war er mit großen Erwartung in sein Heimatdorf zurückkehrte; angesichts der Wirklichkeit überkam ihm bald aber Angst und Unbehagen.

Ungeachtet aller Popularität der „Bauernfrage“ konnten die öffentlich ausgetragenen Diskussionen nicht viel dazu beitragen, die duale Kultur in der russischen Gesellschaft zu überwinden und damit Bauernschaft und Intelligencija einander näher zu bringen. Letztlich blieb die Suche nach der „bäuerlichen Seele“ für viele Gebildete vorrangig eine Suche nach sich selbst, bei der die Bauern weiterhin nur als formbares Objekt, nicht aber als gleichberechtiger Gegenüber gesehen wurden, dessen Wünsche, Ziele und Lebensideale zu respektieren waren.

Trotz dieses pessimistischen Gesamtfazits hebt Frierson einige positive Aspekte hervor. So habe in diesen Jahrzehnten die gebildete Gesellschaft des Zarenreiches zum ersten Mal den Versuch unternommen, sich auf den Bauern und das Dorfleben einzulassen. Dabei seien trotz des von Selbstsuche und ideologischen Prämissen bestimmten Zuganges fragmentarisch und schemenhaft dennoch einige Aspekte bäuerlicher Lebenswelten wahrgenommen worden, um so den folgenden Generationen schon erkenntnisrelevante Orientierungshilfe vorzugeben. Zugleich hatten sich innerhalb des fast eine Jahrhunderthälfte andauernden Diskurses die Deutungsbilder verändert. Der diffuse und nicht eingrenzbare Volksbegriff (narod), der weniger Resultat wissenschaftlicher Forschungen als vielmehr elementarer Bestandteil einer Weltanschauung gewesen war, wich vor allem in der späten Phase mehr von soziologisch und ökonomisch geprägten Sichtweisen. Der russische Bauer wurde immer mehr gesehen als rationaler Landwirt, als leistungs- und profitorientierter Kulak, der seine Wirtschaft marktgerecht modernisiert, und schließlich auch als Opfer dieser Modernisierungsanstrengungen, dessen traditionelle Welt zusammen- und dessen Lebensgrundlage weggebrochen war.

Ein gleichermaßen polarisiertes Bild hatte sich die gebildete Gesellschaft von der Bäuerin geschaffen. Sie trat dem interessierten Leser einerseits als energisches und Konflikte provozierendes „Kampfweib“ (boj baba) entgegen, das, vom damaligen Liberalismus und Individualismus infiziert, persönliche über gemeinschaftliche Ziele stellte, um so die patriarchalen Familienstrukturen als den Grundpfeiler dörflich-bäuerlichen Lebens zu zerstören. Andererseits blieb die Bäuerin weiterhin der Inbegriff von Reinheit und Unschuld. Als passives Opfer ertrug sie geduldig alle Leiden, die ihr sowohl Tradition als auch Moderne auferlegten, und drückte damit die „Leidensfähigkeit des russischen Volkes“ aus.

Während in den Kapiteln zur Bäuerin und zum Kulaken zu erkennen ist, wie Frierson die zeitgenössische Texten akribisch und sensibel auswertet, um aus ihnen Wissenswertes herauszulesen und dieses in eine Gesamtkonzeption einzubinden, fallen die Kapitel, die sich mit den Stereotypen der „Bauer als Richter“ und der „bäuerlichen Gemeinde“ befassen, doch ab. Die hier präsentierten Ergebnisse werden nur am Rande in die abschließende Interpretation eingefügt, so dass das Buch ohne sie genauso hätte gut publiziert werden können.

Hier setzt die hauptsächliche Kritik an, die gegen diese Dissertation vorzubringen ist. Zwar demonstriert Frierson überzeugend, wie anhand eines überschaubaren Quellenmaterials mit textinterpretativen Methoden, die bei Bedarf sozialhistorisch erweitert werden, interessante Schlussfolgerungen gezogen werden können. Doch geht ihre Monographie häufig zu sehr in die Breite und bleibt damit an der Oberfläche. Vieles, was die Autorin schreibt, wird den kundigen Leser nicht überraschen. Er wird ihr zwar dafür dankbar sein, dass sie das, was er von sich aus vermutet und an anderen Stellen vielleicht auch schon mal gelesen hat, kompakt und gut lesbar zusammenfasst. Dafür versäumt es Frierson allerdings, ihren Aussagen an einigen Stellen weiter nachzugehen und mehr aus ihrem Wissen zu machen. So richtet sie ihr Augenmerk einseitig auf das intellektuelle Milieu, ohne sich die Frage zu stellen, wie denn die Bauern auf die öffentlichen Diskussionen über ihre „Seele“ reagiert haben und ob sie womöglich davon in ihrer eigenen Identitätsfindung beeinflusst wurden. Das „schmale Schlichtungsfeld zwischen Volk und Intelligenz“ (A. Blok), auf dem sich gebildete Bauern und „ins Volk gehende“ Intellektuelle trafen, wäre allemal ein interessanteres Forschungsfeld gewesen, als an einem weiteren Beispiel demonstriert zu bekommen, wie sich ‚Westler‘ und Slavophile, Populisten, Liberale und Konservative in ihren Auffassungen vom russischen Bauern konträr gegenüber standen.

Schließlich hätte das Dissertationsthema wirkungsgeschichtlich weiter vertieft werden können. Spätere russische Politikergenerationen sind von der damaligen Diskussion in ihrem Verständnis vom Bauern sicherlich entscheidend mitgeprägt worden. Auch wählen viele Forscher, weil die Bauern nur sehr wenig Schriftliches über ihre eigene Lebenswelt hinterlassen haben, den mittelbaren Quellenzugang über das zeitgenössische Schrifttum und übernehmen damit zwangsläufig die Sichtweisen der damaligen gebildeten Gesellschaft. Obwohl Frierson diesen Problemkreis erkannt und eingangs thematisiert hat (S. VIII), unterlässt sie es, exemplarisch an einem Stereotyp dessen Wirkungsgeschichte (z. B. Lenins und Stalins Bild der Kulaken) weiter nachzuzeichnen.

Tübingen, Klaus Gestwa

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