Gehmacher, Johanna: Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, 479 S., Picus, Wien 1994.

Die Geschichte der österreichischen Hitler-Jugend wird in der allgemeinen Literatur zur Hitler-Jugend weitgehend ignoriert. Dabei hat es in Österreich schon sehr früh eine nicht unbedeutende nationalsozialistische Jugendorganisation gegeben: Bereits Anfang 1923 wurde in Wien die Nationalsozialistische Jugend (NSJ) gegründet, die im wesentlichen aus einer deutschnationalen Gewerkschaftsorganisation aus der Vorkriegszeit hervorging. Die Initiative zur Gründung war von der expandierenden und von Richtungskämpfen gebeutelten österreichischen nationalsozialistischen Partei (DNSAP) ausgegangen, offenbar in der Hoffnung auf eine Verstärkung des „linken“ Flügels der Partei. Diese Herkunft aus der Gewerkschaftsjugend unterschied die NSJ deutlich von der deutschen Hitler-Jugend, die ihre Wurzeln sehr viel mehr in der Bündischen Bewegung hatte. Die NSJ verstand sich dagegen viel stärker als Gegenstück zu den sozialistischen Jugendorganisationen, vor allem zur SAJ, was ab 1926 sogar in ihrem Namen zum Ausdruck kam: Sie nannte sich nun Nationalsozialistische deutsche Arbeiterjugend (NSDAJ).

Mit der NSJ/NSDAJ bis zu deren Selbstauflösung im Jahr 1934 beschäftigt sich – nach einer eher zusammenfassenden Einleitung – der zweite Teil des Buches von Johanna Gehmacher, das aus einer Dissertation am Institut für Geschichte der Universität Wien hervorgegangen ist. Im dritten Teil wird dann die eigentliche Hitler-Jugend behandelt, die im Jahre 1926 – also dem gleichen Jahr, in dem auch die deutsche Hitler-Jugend offiziell entstanden ist – aus einer Spaltung der NSDAJ hervorgegangen ist. Im Gegensatz zur NSJ/NSDAJ fand diese Abspaltung, die sich vor allem dem Führerprinzip verpflichtet fühlte, bald die Anerkennung Hitlers und der NSDAP. Obwohl sie zunächst eine durchaus eigenständige Rolle gegenüber der österreichischen Partei und der HJ-Reichsleitung spielen konnte, führte gerade ihre Verpflichtung auf das Führerprinzip spätestens 1932 zur völligen Unterstellung unter die Reichsleitung in München (S. 197). Zu diesem Zeitpunkt ist auch die spezifische Prägung der österreichischen NS-Jugend im Vergleich zur deutschen, die starke quasigewerkschaftliche Orientierung, im wesentlichen beendet. Für die frühe Zeit bildet aber die österreichische NS-Jugend nach den Ergebnissen von Gehmacher tatsächlich eine Unterstützung der Thesen Peter Stachuras von der relativen Unabhängigkeit und ideologischen Selbständigkeit der Hitler-Jugend.

In einem eigenen Teil wird anschließend die Geschichte der Mädchen in der Hitler- Jugend, insbesondere die des auch in Österreich parallel zur deutschen Entwicklung 1930 entstandenen BDM, gesondert dargestellt. Im übrigen ist das ganze Buch sehr stark von einer geschlechtergeschichtlichen Sichtweise geprägt, um die von der Autorin konstatierte Tendenz in der Literatur über die Hitler-Jugend zu konterkarieren, dem Anspruch nach die gesamte HJ darzustellen, tatsächlich aber nur die männliche HJ zu berücksichtigen (S. 27). Dagegen versucht die Verfasserin durchgängig nicht nur in der Schreibweise männliche und weibliche Angehörige der Hitler-Jugend gleichmäßig zu berücksichtigen. Das gilt auch für den fünften und letzten Teil, in dem die Zeit der Illegalität von HJ und BDM in Österreich von der Konstitutionsphase des Austrofaschismus 1933/34 bis zum Anschluss 1938 behandelt wird. Denn während sich die Hitler-Jugend in Deutschland zur alleinigen Staatsjugend entwickelte, wurde sie in Österreich im Juni 1933 zunächst verboten und sah sich nach dem Scheitern des nationalsozialistischen Putschversuchs im Juli 1934 intensiver behördlicher Verfolgung ausgesetzt.

Die Verfasserin versucht organisationsgeschichtliche und ideengeschichtliche Ansätze miteinander zu verbinden. Im Zentrum ihres Interesses und ihrer Arbeit stehen jedoch eindeutig die inhaltsanalytischen Fragen, zumal die Publizistik der nationalsozialistischen Jugendorganisationen die umfangreichste Quellengattung ihrer Untersuchung darstellte. Dabei versucht die Autorin mit einigem Erfolg, die klassische ideologiekritischen Analyse der nationalsozialistischen Texte mit Hilfe einer dekonstruktivistischen Diskursanalyse zu überwinden, um so die Funktionsweise der NS-Ideologie besser verstehen zu können. Gelungen ist dies vor allem in der umfangreichen Analyse der NSJ-Zeitschriften im zweiten Kapitel (S. 59ff.), die ein Herzstück des Buches darstellt, auch wenn einem die Interpretation einzelner Passagen gelegentlich fast schon etwas zu spitzfindig erscheint. Überzeugend arbeitet sie jedenfalls die zentrale Bedeutung des Antisemitismus, insbesondere des Konstrukts einer „jüdischen Weltverschwörung“ für diesen ideologischen Diskurs heraus, eines Antisemitismus, der auch für Bild und Selbstbild der jungen Frauen in der nationalsozialistischen Bewegung als „Hüterinnen“ des „rassischen Erbes“ von entscheidender Bedeutung war (S. 106ff.).

Die organisationsgeschichtlichen Kapitel leiden demgegenüber etwas darunter, dass die Quellenbasis angesichts des Fehlens geschlossener Aktenbestände, insbesondere der Registraturen der nationalsozialistischen Jugendorganisationen selbst, für diese Fragestellungen recht schmal ist und auch durch Zeitzeugeninterviews offenbar nur partiell ausgeglichen werden konnte. Daher muss die Autorin hier häufig zu Hypothesen Zuflucht nehmen, da das Material keine gesicherten Schlüsse zulässt. Trotzdem füllt ihre Arbeit insgesamt nicht nur eine Forschungslücke in der Geschichte der nationalsozialistischen Jugendorganisationen, sondern kann durch ihren geschlechtergeschichtlichen Ansatz durchaus als exemplarische Studie für die Behandlung gemischtgeschlechtlicher Organisationen gelten.

Hannover, Hans-Dieter Schmid

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