Gebhardt, Winfried/Kamphausen, Georg: „Zwei Dörfer in Deutschland. Mentalitätsunterschiede nach der Wiedervereinigung“, 189 S., Westdeutscher Verlag, Opladen 1994.
In diesem Buch wagen sich zwei Bayreuther Soziologen an ein heikles Thema: den deutsch-deutschen Mentalitätsvergleich. Ihre Forschungen basieren überwiegend auf teilnehmender Beobachtung. Gemeinsam mit Studierenden aus der Soziologie, der Ethnologie und der Geschichte zogen Winfried Gebhardt und Georg Kamphausen im Sommer 1991 und im April/Mai 1992 in zwei Dörfer an der deutsch-deutschen Peripherie, nach Regnitzlosau im bayrischen und Werda im sächsischen Vogtland. Das Buch versteht sich als eine Teilstudie im Rahmen eines „Schwerpunktprogramms“ zum „sozialen und politischen Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft“.
Nun sind Studien zur deutschen Mentalität nicht gerade die Domäne von Soziologen, lässt das Milieu Dorf und die Art und Weise der Datenerhebung eher auf klassisch volkskundliches oder gar ethnologisches Tun schließen. Um so interessanter erscheint daher das interdisziplinär angelegte Projekt.
Einführend beschreiben die Autoren ihr Anliegen: „Glaubt man den gängigen Statements von Politikern und politisierenden Intellektuellen aus Ost und West, dann gibt es nichts Unterschiedlicheres als die ehemals zwei feindlichen Brüder, von denen der eine 40 Jahre die Segnungen von Demokratie und Kapitalismus genießen durfte, während der andere unter der Knute realsozialistischer Tyrannei leiden musste, und die nun gezwungen sind, miteinander auskommen zu müssen“ (S. 11). Sie wollen die tatsächlichen „‚Mentalitätsunterschiede‘ zwischen den ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘“ erkunden, die von „intellektuellen Geistesblitzen“ und Rednern bundesdeutscher Stammtische – Katastrophen prophezeiend – immer wieder zitiert werden; hinter die Fassade der Instrumentalisierung von Mentalitätsunterschieden schauen und „die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen neue und sinnvoll“ stellen.
Nach einem kurzen theoretischen Exkurs über den Mentalitätsbegriff kommen die Autoren zu dem Schluss, dass sich Mentalitäten „als eingelebte Sinngewissheiten verstehen (lassen können), die in der Regel die unreflektierte Grundlage allen sozialen Handelns im alltäglichen Lebensvollzug bilden“ (S. 18). Ihren Zugang zu mentalen Besonderheiten finden sie in der materiell gewordenen Alltäglichkeit, in der „Alltagsästhetik“. Dabei folgen sie in ihrer Gliederung unbewusst dem Volkskundekanon der materiellen Kultur, wenn sie die folgenden Mentalitätsindikationen aufzählen: „Kleidung, Haartracht und Körperpflege, Wohnungseinrichtung und Wandschmuck, Hausrat und Möbelanordnung; Eigenheimarchitektur und Hausverzierungen; Gestaltung der Gärten... Ess- und Trinkgewohnheiten, Lese-, Musik- und Fernsehpräferenzen“ (S. 21) und so weiter. In einem „Methodenmix“ aus „Dorfbeschreibungen“, sozialstatischen Erhebungen, teilnehmender Beobachtung, „Experten“-Interviews, fotografischen Bestandsaufnahmen und 15 qualitativen Interviews wollen sie in die „kollektive Nahwelt“ repräsentativ vordringen.
Leider findet dieser interessante Ansatz im vorliegenden Buch keine überzeugende Umsetzung. Ihre Interpretationen lassen sich an keiner Stelle des Buches nachvollziehen. Ihr Ergebnis: „Das Gemeinsame überwiegt das Trennende schon deshalb, weil es sich bei den ehemals feindlichen Brüdern eben um Deutsche mit einer gemeinsamen Geschichte und Kultur handelt, die über die Zeit der Trennung weit hinausreicht“ (S. 167f.) ist eine Binsenweisheit.
Die Collage aus Interpretation, theoretischen Einschüben und Aussagen der Dorfbewohner vermittelt zunächst den Eindruck von Authentizität und Nähe zur Quelle. Die Aussagen der Dorfbewohner werden jedoch oft überinterpretiert oder unkritisch als „Wahrheit“ an sich verwertet. Vorurteile der Autoren scheinen immer wieder durch.
Fatal wird es bei den Bildunterschriften, die das Ausmaß der Fehldeutungen erahnen lassen: Abbildung 26 zeigt Kinder auf Schaukeln und Fahrrädern sitzend. Der Untertitel: „Werda, ‚Spielerisch den Westen lernen‘“. Abbildung 29, Jugendliche sitzen auf Simson-Mopeds (DDR-Produktion) und basteln an ihnen. Der Untertitel: „Werda, ‚Die neue Freiheit‘“.
Der in der Einleitung formulierte Anspruch, die „bundesdeutschen Stammtische“ und die „intellektuellen Geistesblitze“ zu hinterfragen, wird nicht eingelöst. Die Autoren analysieren zum Teil durchaus interessante Beobachtungen, ohne sich jedoch tatsächlich auf die Kultur der Einheimischen einzulassen. Völlig abgehoben von den besprochenen Interpretationen erscheint das Kapitel „Statt eine Nachwortes“. Hier wird auf einer Metaebene versucht, deutsch-deutsche Mentalität anhand der Begriffe Gemeinschaft, Gesellschaft und Individuum auszuwerten. Es werden jedoch nicht die erhobenen Daten verwertet, sondern Statements von Politikern, Prominenten und Theoretikern über die Deutschen und das Deutschsein.
Das vorgestellte Buch enthält zu wenig Informatives, um es als Beitrag deutsch-deutschen Mentatlitätsvergleiches empfehlen zu können.
Chemnitz, Felix Mühlberg
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