Gellner, Winand: Ideenagenturen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, 276 S., Westdeutscher Verlag, Opladen 1995.
Als Kommentatoren im Verlauf der amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfe oder als Sachverständige in bedeutenden innen- und außenpolitischen Debatten sind sie in der amerikanischen Medienlandschaft längst omnipräsent: Vertreter von „Think Tanks“, also externen Politikberatungsinstitutionen, die in einem wachsenden und zunehmend differenzierten Markt die Ergebnisse wissenschaftlicher (oder vermeintlich wissenschaftlicher) Analyse mediengerecht aufarbeiten und darüberhinaus gezielte politische Argumentationshilfen für politische Eliten offerieren. Diese Entwicklungen hat Gellner zum Anlass genommen in seiner Habilitationsschrift die Formen institutioneller Politikberatung in den USA und in Deutschland vergleichend zu beleuchten. Der hier als deutsche Übertragung des Begriffs „Think Tank“ neu eingeführte Terminus der „Ideenagentur“ (gegenüber der gebräuchlicheren „Denkfabrik“) dient dem Autor dazu, auf die Pluralisierung und Politisierung des modernen Spektrums von Beratungseinrichtungen hinzuweisen. Im einzelnen unterscheidet Gellner zwischen drei grundlegenden Typen von Think Tanks: Neben den traditionellen, relativ unabhängigen und auf die Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit bedachten Think Tanks („Universitäten ohne Studenten“) tun sich seit den 1970er Jahren Institute wie die neo-konservative Heritage Foundation hervor, deren Anliegen weniger die wissenschaftliche Analyse politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Prozesse ist als die gezielte Beeinflussung der politischen Agenda im Sinne der von dem Think Tank verfolgten Ziele („interessenorientierte Institute“). Einen dritten Typus stellen diejenigen Institute dar, die institutionell eng an eine Partei oder einen Verband gebunden sind und deren Forschungsergebnisse in erster Linie der Unterstützung der spezifischen Ziele der Mutterorganisationen dienen („interessengebundene Institute“).
Um die Proliferation und die gewandelte Rolle von Thinks Tanks zu erklären kombiniert Gellner verschiedene theoretische Elemente. Zunächst verweist er auf die wachsende Komplexität moderner „Risikogesellschaften“, was in der Öffentlichkeit und bei politischen Eliten zu einer steigenden Nachfrage nach wissenschaftlich abgesicherten Analysen geführt hat. Diesen Orientierungsbedarf können – so Gellner weiter – die etablierten politischen Instititionen (insbesondere die großen Parteien) nur noch in begrenztem Umfang befriedigen, sodass sich ein Markt für externe Politikberatung eröffnet hat. Die Rolle von Think Tanks besteht nun besonders darin, mit ihren häufig normativ gefärbten Forschungsergebnissen im Rahmen von „Tendenzkoalitionen“ (hier greift Gellner auf das von Paul A. Sabatier entworfene Konzept der „advocacy coalitions“ zurück) den Prozess des agenda-setting zu beeinflussen. Neben ihrer Aufgabe als Ideenlieferant bilden Think Tanks auch ein bedeutendes personelles Reservoir für die Besetzung einflussreicher Regierungsämter.
Im Hauptteil der Studie bietet der Band einen insgesamt gelungenen Überblick über Geschichte, Organisation, Strategie und Programm der bedeutendsten Politikberatungsinstitutionen in den USA und der Bundesrepublik. An einigen Stellen der Darstellung hätte man sich aber doch etwas mehr Tiefgang und Klarheit gewünscht, so wenn Gellner im Zusammenhang mit der Brookings Institution von programmatischen „Adjustierungen“ und „Kursakzentuierungen“ als Reaktion auf die konservativen Attacken der jüngsten Vergangenheit spricht (S. 86). Darüberhinaus geht der Autor zumindest an einigen Stellen auf die spezifischen Einflussmöglichkeiten der Institute ein, auch wenn er sich dabei etwas zu sehr auf die Jahresberichte der Think Tanks und einzelne Pressemitteilungen verlässt. Darüber hinausgehende systematische Einflussforschungen bleiben – darauf weist Gellner schon in der Einführung ein – weiteren Einzelfallstudien vorbehalten.
Der positive Eindruck des Buches wird etwas getrübt angesichts einzelner Defizite der theoretischen Konzeption sowie der nur unzureichenden Verbindung zwischen dem theoretischen Ansatz und dem empirischen Hauptteil der Arbeit. So bleibt Gellners Hinweis auf die fragmentierenden Tendenzen im Kongress der USA sowie auf die Schwächen von Parteien und Verbänden unzureichend, da die gleichzeitig zu beobachtenden zentralisierenden Tendenzen ausgeblendet werden. Dazu zählt nicht zuletzt die Wiederbelebung von Parteiorganisationen und Führungskapazitäten innerhalb der Parteien, die Bildung von Verbandskoalitionen oder die Ausformung neuartiger Integrationsmechanismen im Kongress in Form der Congressional Member Organizations. Gleichzeitig stehen stehen den Kongressabgeordneten neben den Think Tanks zusätzliche neuartige Informationsquellen zur Verfügung (z. B. das Congressional Budget Office oder der Congressional Research Service), deren Einfluss auf die Meinungsbildung eines Abgeordneten nicht unterschätzt werden sollte. Darüber hinaus wird die für den konzeptionellen Ansatz der Untersuchung bedeutsame Frage nach den Orientierungsverlusten moderner Gesellschaften in den empirischen Untersuchungen des Autors (auch in der von Gellner selbst durchgeführten Umfrage unter den Abgeordneten des deutschen Bundestages) nicht weiter verfolgt.
Obwohl bereits in den 1920er Jahren der erste Think Tank in den Vereinigten Staaten gegründet wurde und ihre Zahl heute die in anderen westlichen Industrienationen deutlich übersteigt, ist die Existenz solcher Institutionen – dies macht die Arbeit Gellners sehr deutlich – längst kein ausschließlich amerikanisches Phänomen mehr. Auch in der Bundesrepublik steigt die Zahl von Politikforschungseinrichtungen, die, wie das IFO-Institut, die Stiftung Wissenschaft und Politik oder die parteinahen Stiftungen, funktional äquivalente Leistungen erbringen wie die amerikanischen Vorbilder, die sich aber zumindest nominal nicht gleich als Think Tanks zu erkennen geben. Nach wie vor aber begünstigen die spezifischen institutionellen Strukturen die dynamischere Entwicklung des Spektrums der Ideenagenturen in den USA. Die Differenzierung der Think Tank-Landschaft in den USA wie in der Bundesrepublik kann dabei im Ergebnis – und hier kann man meines Ermessens den Schlussfolgerungen Gellners durchaus zustimmen – durchaus positive Auswirkungen für den Meinungs- und Willensbildungsprozess haben und damit im Ergebnis systemstabilisierend wirken.
Frankfurt am Main, Uwe Wenzel
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