Gowers, Andrew/Walker, Tony: Arafat. Hinter dem Mythos, 669 S., Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994 (eng. 1990).
Zwei Journalisten der Londoner Financial Times veröffentlichten 1990 die Originalfassung dieser Biographie in englischer Sprache. Sie stützten sich dabei wie der Anmerkungsapparat auch der jetzt vorliegenden deutschen Fassung nachweist auf Interviews mit zahlreichen Akteuren, hauptsächlich aus der PLO (aber auch z. B. mit dem israelischen General Aharon Yariv – die „andere Seite“ anzuhören, gehört sich bei Konfliktberichterstattung); die Kette der Interviews begann im Frühjehr 1989 und wurde durch Gespräche mit Yasir Arafat in Tunis (Dezember 1989) und Bagdad (Januar 1990) gekrönt. Die so gewonnene Information wird ergänzt durch einige Titel aus der wissenschaftlichen und autobiographischen Literatur (z. B. das Bekenntnisbuch des engen Mitarbeiters von Arafat, Abu Iyad, 1981) sowie durch Zeitschriftenaufsätze. Eine systematische Aufarbeitung, gar Kritik der voluminösen Literatur zum israelisch-arabischen Konflikt findet nicht statt. Die Autoren erzählen die Lebensgeschichte Arafats in einem Guss, als professionelle Journalisten. Sie suchen den möglichst direkten Zugriff auf die Ereignisse, und das sind nun einmal die Aussagen der aktiv Handelnden; sie werden dann kritisch nur noch mit dem Gesamtbild von der Person und Sachlage konfrontiert, das die Autoren bereits gewonnen haben.
Diese Art der Berichterstattung, ob in Zeitungsspalten oder zwischen Buchdeckeln, ist legitim. Sie ist nicht wissenschaftlich. Die Wissenschaft kann und soll einen solchen Bericht wiederum als Quelle benutzen.
Seit 1990 ist mit Arafat, durch Arafat, mit der PLO einiges passiert. Diese Ereignisse sind in die deutsche Übersetzung (ursprünglich Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994) einbezogen: auf Seite 464 der deutschen Taschenbuch-Ausgabe tauchen plötzlich, mitten im Kapitel „Das falsche Pferd“ Aussagen auf, die laut Anmerkung auf Interviews fußen, die im März/April 1991 geführt wurden. Der ganze fünfte Teil des Buches „Die Abrechnung“ betitelt, und der Epilog sind durch Meldungen von Nachrichtenagenturen und vereinzelte Zeitungsartikel von 1992 und 1993 dokumentiert. Haben also die Verfasser für eine zweite englische Auflage, oder nur für die Übersetzung ins Deutsche nachgearbeitet? Welche Aufgaben übernahm Walter Helfer, der Übersetzer? Er stellt dem Text ein eigenes, auf Februar 1994 datiertes Vorwort voraus, schweigt jedoch über einen eventuellen Eigenbeitrag.
Die „Bibliographie“ (S. 616–624) stammt anscheinend im wesentlichen von den britischen Verfassern, führt sie doch fast nur englische Titel auf; zu einigen sind deutsche Übersetzungen angeführt, und Uni Avnery sowie Peter Rühmkorf sind mit je einem original deutschen Buch von 1988 beziehungsweise 1972 vertreten. In den Anmerkungen zum Text finden sich die meisten Titel der „Bibliographie“ nicht wieder. Sie ist also keine, sondern eine ziemlich willkürlich kompilierte Bücherliste. Von dokumentarischem Wert dagegen ist der im englischen Wortlaut Seite 598, Seite 615 abgedruckte Text der berühmten israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung vom 19. August 1993, einschließlich Briefwechsel zur gegenseitigen Anerkennung mit den faksimilierten Unterschriften der Herren Arafat und Rabin.
Das Gesamtbild von Yasir Arafat, das bei der Lektüre dieses Buches entsteht, und von dem wir angesichts der Quellenlage vermuten dürfen, dass es Arafats Selbsteinschätzung nahe kommt, ist das Bild eines in der Taktik überaus wendigen, in der Wahl seiner Kampf- und Machtmittel opportunistischen bis skrupellosen Politikers, der dabei felsenfest auf seiner Überzeugung beharrt: Die arabischen Einwohner des Landes, das die Briten bis 1948 als Mandatsgebiet Palästina verwalteten, sind ein Volk mit dem Anspruch auf nationale Selbstbestimmung und das heißt auf Begründung eines eigenen Staates in ihrem Heimatland. Hinzu kommt kaum weniger eindeutig, dass Yasir Arafat der von wem auch immer bestimmte Führer dieses Volkes ist, und dieser „wer auch immer“ scheint, ohne dass dies direkt angesprochen wird, eher Gott zu sein (der Gott Ibrahims/Abrahams und seiner beiden Söhne) als ein alle vier oder fünf Jahre widerrufbares Wahlergebnis.
Berlin, Franz Ansprenger
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