Gräser, Marcus: Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, 306. S., Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1995.
„Jedes Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ – mit diesen Worten wurde das „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt“ vom 9. Juli 1922 eingeleitet. Das „Recht des Kindes auf Erziehung“ war als Slogan der deutschen Jugendfürsorgebewegung mit der gleichnamigen Dissertationsschrift von Wilhelm Polligkeit (1922–35 und 1946–50 Vorsitzender des „Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“) aus dem Jahr 1907 allgemein bekannt geworden. Ganz anders klangen dagegen die Schlagworte gegen Ende der 1920er Jahre, nur kurze Zeit nach Inkrafttreten des Reformgesetzes: Jetzt wurde von „Jungen in Not“, von der „Revolte im Erziehungshaus“, gesprochen, und die Fürsorgeerziehung in festen Anstalten, das Kernstück des Reichsjugendwohlfahrtgesetzes, galt als eines der großen Skandalthemen der späten Weimarer Republik. War die Jugendfürsorgebewegung an die „Grenzen der Sozialdisziplinierung“ geraten, wie Detlev J. K. Peukert in seiner Studie zum „Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge“ (1986) feststellte? Kann die Jugendfürsorge, so Peukert, als Beispiel für den „Januskopf der Moderne“, die Ambivalenz des Modernisierungsprozesses dienen, der „in einer krisenhaften Situation durchaus den Umschlag von Rationalisierungseuphorien in Selektionsterror ermöglicht“?
In seiner Dissertationsschrift bei Prof. Dr. Lothar Gall an der Universität Frankfurt am Main versucht Marcus Gräser dieses Bild zu korrigieren, wenn nicht sogar zu widerlegen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Gräser gelingt es, die Darstellung Peukerts in einigen Details zu ergänzen. Er zeichnet in seiner gut lesbaren Arbeit ein detailliertes Bild der „modernen“ Jugendfürsorgebewegung seit ihrem Entstehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zu ihrem Abbau unter den Präsidialregierungen der Weimarer Republik. Dabei ist die intensive sozialgeschichtliche Betrachtung der „Objekte“ der Jugendfürsorge, der „Unterschichtjugend“, ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse, ebenso hervorzuheben wie sein Eingehen auf die späten, vorwiegend sozialdemokratisch inspirierten, Reformversuche in Preußen und Sachsen am Anfang der 1930er Jahre. Gräser stützt sich dabei vor allem auf die Unterlagen des „Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages“ und des Deutschen Vereins in Frankfurt am Main. Ihm gelingt dadurch eine anschauliche Schilderung der institutionellen Binnensicht der Jugendfürsorge. Die Empfindungen der betroffenen Jugendlichen, die auch die modernen Fürsorgeerziehungsanstalten weiterhin überwiegend als „Prügel- und Betanstalten“ ansahen und weit mehr als den Justiz-Strafvollzug fürchteten, werden dagegen eher vernachlässigt. Stattdessen betont Gräser den grundlegenden Konflikt zwischen der freien, konfessionellen Fürsorge einerseits und der öffentlichen Fürsorge andererseits. Als eigentliche Ursache der Krise der deutschen Jugendfürsorge in den Jahren nach 1928 stellt er die Diskrepanz zwischen den Erfordernissen einer industrialisierten Arbeitswelt und dem antiquierten sozialen Ideal der „modernen“ Jugendfürsorge heraus. Dieser Anachronismus machte sich in der an vorindustriellen Erfordernissen orientierten Berufsausbildung der Zöglinge zu Landarbeitern und einfachen Handwerkern ebenso bemerkbar wie an der fehlenden Professionalisierung der Erzieher. Die bereits bestehende Krise der Jugendfürsorge wurde durch die allgemeine Kostennot der späten Weimarer Republik lediglich verschärft. Die beiden Notverordnungen der Regierung von Papen vom November 1932 zogen einen (vorläufigen) Schlussstrich unter diese Entwicklung. Das „Recht des Kindes auf Erziehung“ galt nicht mehr für jeden Jugendlichen; offensichtlich „unerziehbare“ Minderjährige wurden aus der Jugendfürsorge ausgeschlossen, ohne dass, wie im Gesetz von 1922 gefordert, eine andersweitige Unterbringung gesichert war.
In seinem Bemühen, sich von Peukert abzuheben, stellt Gräser dessen „geschichtspessimistischer“ Sichtweise den offenen Charakter der Entwicklung in der Jugendfürsorge gegenüber. Er spitzt dies in der These zu, dass nicht die modernen Teile der Jugendfürsorge, sondern nur ihr rückständiger Kern am Ende der 1920er Jahre in die Krise geraten seien. Um dem „Januskopf der Moderne“ zu entgehen, vernachlässigt Gräser die bereits Mitte der 1920er Jahre einsetzende allgemeine Debatte um die „Unerziehbarkeit“, erwähnt nur am Rande die auch für die Praxis der Jugendfürsorge so wichtige Debatte um ein Ver-/Bewahrungsgesetz und ignoriert die bis in die Sozialdemokratie hinein wirkenden Denkmuster der „Sozialhygiene“, deren Vertreter sich in vielem mit den nationalsozialistischen Theoretikern der „Rassenhygiene“ einig waren. So kann er schließlich von einer „Überwältigung“ (!) der Jugendfürsorge durch die „Rassenhygiene“ reden – das Jahr 1933 erscheint als abrupter Bruch in der (Erfolgs-)Geschichte der modernen Jugendfürsorge. Personelle Kontinuitäten, die gerade in diesem Bereich auch über 1945 hinaus offenkundig sind, werden nicht weiter beachtet. Der von Gräser verwendete, äußerst problematische, Begriff einer „nationalsozialistischen Anti-Fürsorge“ steht symbolhaft für diese Sichtweise.
Fazit: Gräsers Studie stellt zwar eine wichtige Ergänzung bisheriger Arbeiten zur Jugendfürsorge dar, leidet jedoch unter ihrer Frontstellung gegen tatsächliche oder vermeintliche Thesen der aktuellen Forschungsdiskussion. Die Arbeiten Peukerts behalten auch weiterhin ihren Wert als wegweisende Analysen, die über den engeren Rahmen der Jugendfürsorge hinaus zur „Historisierung“ der neueren deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert beitragen.
Saarbrücken, Rainer Möhler
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