Grenzer, Andreas: Adel und Landbesitz im ausgehenden Zarenreich. Der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung nach Aufhebung der Leibeigenschaft, 255 S., Steiner, Stuttgart 1995.
Die vorliegende Göttinger Dissertation von Andreas Grenzer nimmt sich eines in der deutschen wie internationalen Forschung zu Unrecht stark vernachlässigten Themas an. Der europäische Adel ist in der Historiographie gegenüber anderen sozialen Schichten ein Stiefkind geblieben. Dies gilt in verstärktem Maße für die russische Geschichte. Denn hier sucht eine Gesamtdarstellung des Themas immer noch einen Autor und auch nach der Lektüre von Grenzers einstweiligen chef d'oeuvre wird man zwar von einem neuen erfolgreichen Vorstoß in das Gebiet, nicht jedoch von einer erleichternden Erklärung darüber sprechen können, wie es denn nun eigentlich um den russischen Adel bestellt gewesen sei. Über die Stellung des Adels im Rahmen der Sozialgeschichte des ausgehenden Zarenreiches wissen wir bis heute viel zu wenig. Erst seit den 1980er Jahren hat man begonnen, sich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Grenzer selbst ist einer der Protagonisten dieser Forschergruppe.
Der Autor geht von einem methodischen Ansatz aus, der in der neueren sozialgeschichtlichen Forschung zu west- und mitteleuropäischen Gesellschaftsschichten sowie in der bisherigen Forschung zur Sozialverfassung des vorrevolutionären Russland verankert ist. Was die thematische Eingrenzung angeht, so beschränkt sich der Autor auf die regional zu differenzierenden Gruppen des russischen Landadels und deren landwirtschaftliche Betätigung. Die Bereiche Staatsdienst und Öffentlichkeit bleiben als mögliche Beschäftigungsfelder des Landadels aus arbeitsökonomischen Gründen bewusst ausgespart. Eine der Quellenlage entsprungene weitere Einschränkung besteht in der Konzentration auf die dünne Schicht der Großgrundbesitzer. Als Hauptdifferenz der Gruppengrenzen des russischen Landadels dient die Dichothomie Schwarzerde/Nichtschwarzerde innerhalb des Zentralen Gewerbegebietes und des Zentralen Landwirtschaftsbereiches. Grenzer interessiert bei dieser Differenzierungsarbeit vor allem die Frage, wie die verschiedenen Adelsgruppen auf die durch die Industrialisierung verursachten sozialen Wandlungen und funktionalen Umorientierungen reagierten, wie sie ihre Reaktionen in Interessenvertretungsorganen artikulierten.
Als Antwort kann Grenzer geltend machen, dass der russische Landadel seine überkommene soziale und wirtschaftliche Führungsposition auf der zwar schwankenden, aber immer noch zureichenden materiellen Grundlage seines Landbesitzes innerhalb der russischen Gesellschaft bis zum Ende des Zarenreiches bewahren konnte. Dies war möglich aufgrund der vielfach vorhandenen Einsicht in die Notwendigkeit von Investitionen in moderne Technik. Solche Investitionen fanden jedoch oft nur halbherzig statt. Einer radikalen Zuwendung zu kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Prinzipien standen nicht zuletzt ständisch-patriarchalische Normen entgegen.
Grenzer gelingt mit der letztlich nicht befriedigenden, weil diffusen, vielleicht aber in ihrer Diffusität der historischen Wirklichkeit eher entsprechenden Antwort der Vorstoß zu einer konkreteren Behandlung der Frage, welche Entwicklung der russische Adel in der Endphase des Zarenreiches durchlief. Damit weist er einen Weg, der weiter beschritten werden sollte. Die im Schatten der Russischen Revolution von 1917 und der lange Zeit ideologisch verrenkten Agrargeschichte Russlands dahinkümmernde Geschichte des russischen Landadels hat einen ersten Schritt ans Licht gewagt.
Heidelberg, Ralph Tuchtenhagen
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