Drei neue Titel zur Geschichtsdidaktik:
Bergmann, Klaus: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, 185 S., Wochenschau, Schwalbach/Ts. 2002.
Grosch, Waldemar: Geschichte im Internet. Tipps, Tricks und Adressen, 167 S., Wochenschau, Schwalbach/Ts. 2002.
Völkel, Bärbel: Wie kann man Geschichte lehren? Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Geschichtsdidaktik, 244 S., Wochenschau, Schwalbach/Ts. 2002.
Nicht erst seit den aktuellen Post-Pisa-Debatten über den "Bildungsnotstand" haben sich Geschichtsdidaktiker darum bemüht, neue Formen der Wissensvermittlung zu finden und theoretisch zu begründen. Mit drei neuen Veröffentlichungen bietet der Wochenschau Verlag Beiträge zur Verbindung didaktischer Theorie und Praxis, die jeweils auf ihre Weise das Bemühen zeigen, das lernende Individuum in den Mittelpunkt geschichtsdidaktischer Überlegungen zu stellen.
Nicht erst seit den aktuellen Post-Pisa-Debatten über den „Bildungsnotstand“ haben sich Geschichtsdidaktiker darum bemüht, neue Formen der Wissensvermittlung zu finden und theoretisch zu begründen. Mit drei neuen Veröffentlichungen bietet der Wochenschau Verlag Beiträge zur Verbindung didaktischer Theorie und Praxis, die jeweils auf ihre Weise das Bemühen zeigen, das lernende Individuum in den Mittelpunkt geschichtsdidaktischer Überlegungen zu stellen.
Neue Formen der historischen Wissensvermittlung sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie gegen die Dominanz des chronologischen Unterrichtsmodells im Schulfach Geschichte anrennen. Dies tut auch Klaus Bergmann in seinem Plädoyer für den Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht. Zwar betont er, seine Vorschläge zur Berücksichtigung gegenwärtiger Anliegen im Unterricht ließen sich auch im chronologisch angelegten Unterricht umsetzen, doch letztlich bleibt er halbherziger „Vernunftchronologe“: Er akzeptiert, dass dieses – jüngst im hessischen Lehrplan sogar wieder bekräftigte – Modell wohl nicht so rasch aus den Schulen verschwinden wird, doch sein Herz gehört nichtchronologischen Unterrichtsformen. Diese erlauben es den Lehrerinnen und Lehrern viel geschmeidiger auf brennende Gegenwartsfragen einzugehen als die Orientierung an einem jeweils vorgegebenen historischen Lehrplan-„Stoff“.
Dass historisches Denken und Fragen stets von den Erfahrungen der Gegenwart ausgehen muss, ist eine geschichtstheoretische Selbstverständlichkeit. Aber was bedeutet dies nun für die Geschichtsdidaktik? Bergmann schlägt vor, auch den Unterricht stärker an der „Gegenwart“ auszurichten. Unter diesem Begriff versteht er in erster Linie die „großen Fragen“, die eine Gesellschaft beschäftigen, so Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Umweltschutz. Kurz, es handelt sich um die Problemfelder, die den täglichen Zeitungsberichten zugrundeliegen und die das weitere Leben der Schülerinnen und Schüler voraussichtlich prägen werden. Die Lehrkräfte werden angehalten, durch „wache Zeitgenossenschaft“ bei diesen Themen auf dem Laufenden zu sein und im Unterricht Bezüge dazu herzustellen. In Verbindung mit offenen Lehrformen sollen auf diese Weise die individuellen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht einbezogen werden.
Bergmann bietet viele Themenbeispiele aus der Tagespresse sowie didaktische Analysen für mögliche Unterrichtseinheiten. Dennoch sieht er selbst in seinen einleitenden Worten Kritik an seinen Vorschlägen voraus. Nun denn: Unbestritten sollte wohl sein, dass die Herstellung eines Gegenwartsbezugs ein wichtiges methodisches Mittel darstellt, das es erlaubt, Geschichtsvermittlung auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu beziehen.
Doch kann der Gegenwartsbezug – über seine geschichtstheoretische Selbstverständlichkeit hinaus – wirklich zum einzigen didaktischen Ausgangspunkt des Geschichtsunterrichts werden? Selbst wenn man Bergmanns Behauptung akzeptiert, dass sich das vielgepriesene (und selten erreichte) historische Überblickswissen durch seinen Ansatz besser erreichen ließe als durch den herkömmlichen Unterricht, bleiben Fragen. So ist der Begriff des Gegenwartsbezugs selbst mehrdeutig. Einmal geht es darum, Themen zu gestalten, die von Bedeutung für das Leben der Schüler und Schülerinnen sind; zum anderen um „große Fragen“ der Gegenwart. Letztere sind für die Schüler/innen nicht von vornherein von Interesse, sondern dieses muss unter Umständen erst geweckt werden. Selbst Lehrer/innen mit „wacher Zeitgenossenschaft“ können diese nicht bei allen Schüler/innen unbedingt voraussetzen; mancher mag ein Interesse für Geschichte eher als Fluchtraum der Phantasie vor eben diesen Fragen entwickeln – ein Weg zur Geschichte, der sich auf jeden Fall didaktisch nutzbar machen lassen sollte. Eine gegenwartsbezogene Didaktik kann also nicht beim Interesse der Schüler/innen für „große Fragen“ ansetzen, sondern muss dieses unter Umständen erst wecken. Damit dreht sich die Diskussion faktisch im Kreis.
Auch fragt sich, wie lange für die Schüler/innen etwas aktuell bleibt. Bergmann schlägt den Lehrern vor, fleißig Zeitungsausschnitte zu aktuellen Themen zu sammeln. Doch wie viele der von ihm selbst in seinem Büchlein gegebenen Beispiele (oft von 2000 und 2001) würden heute noch auf Schüler/innen ‚aktuell‘ wirken? Muss man den Schüler/innen aber erst in einem eigenen Unterrichtssegment beibringen, dass eine bestimmte „große Frage“ für ihn oder sie aktuell ist, dann kann man doch eigentlich genausogut direkt mit der Vergangenheit einsetzen.
Überhaupt fehlt auch im gegenwartsbezogenen Ansatz auffällig der Bezug zur unmittelbaren Lebenswelt der Schüler/innen. Themen wie Familie oder Partnerschaft, die in manchen Altersgruppen eine große Rolle spielen, aber auch die Schule selbst – immerhin ein sozialer Raum, den sowohl Schüler/innen als auch Lehrer/innen bestens kennen – werden als solche nicht als Ausgangspunkt für Unterrichtsreihen vorgeschlagen. Das Konzept „Gegenwart“ ließe sich also für die Geschichtsdidaktik noch weiter ausbauen beziehungsweise differenzieren.
Unbestritten dürfte aber sein, dass es die Geschichtsdidaktik nicht versäumen darf, Vorschläge auszuarbeiten, um historische Problemzusammenhänge so an die Schülerinnen und Schüler heranzutragen, dass diese eine Relevanz für ihre eigenen Lebenszusammenhänge darin erkennen können. In diesem Zusammenhang gesehen bietet Bergmann einen anregenden Diskussionsbeitrag, der durch die vielen Beispiele und didaktischen Analysen den unmittelbaren Weg in die schulische Unterrichtspraxis sucht.
Einen Praxisbezug verspricht auch der Titel „Wie kann man Geschichte lehren?“. Doch der Untertitel verrät ein etwas anders gelagertes Programm. Die Aufgabenstellung des Bandes könnte zusammengefasst werden in der Frage: Wie kann man Geschichte lehren, wenn alles Wissen nur Konstruktion ist? Bärbel Völkel geht von der Wissenstheorie des Konstruktivismus aus, die die subjektive Sinnstiftung betont, die dem Leben des Einzelnen zugrundeliegt. Daraus folgt für den Geschichtsunterricht, dass den Schülern kein festgelegter Wissenskanon als verbindlich vorgeschrieben werden kann, sondern dass im Unterricht Raum bestehen muss, damit die Schüler selbst mit ihren eigenen Fragen und Verstehenshintergründen an die Geschichte herangehen können. Völkel plädiert für einen Wandel im Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer, die sich stärker als „Lehrberater“ denn als Stoffvermittler verstehen sollen. Der von ihr favorisierte Unterricht bietet Raum für eine kreatives „Driften“, das jedem Schüler die optimale Auseinandersetzung mit historischen Zusammenhängen erlaubt.
Diese Anwendung des Konstruktivismus auf die Geschichtsdidaktik greift in ihrem Ergebnis sicherlich partiell auf bekannte reformpädagogische Gedanken zurück, doch Völkel liefert eine eigenständige Begründung solcher Unterrichtsvorstellungen, indem sie eine theoretische Verbindung herstellt zwischen der Anwendung offener Lehrformen, dem motivationspsychologischen Flow-Erlebnis und der Wissenstheorie des Konstruktivismus. Dabei trifft sich letztlich die konstruktivistische Theorie des Wissens, die davon ausgeht, dass alles Erkennen des Menschen nie zum Auffinden einer objektiven Wahrheit führt, sondern Wahrheiten aus der Subjektivität des/der Erkennenden heraus konstruiert, mit offenen Lehrformen, die die Subjektivität des einzelnen Schülers/der einzelnen Schülerin in den Mittelpunkt der Unterrichtsüberlegungen rücken. Intersubjektivität wird dann durch das Funktionieren (die „Viabilität“) von Wissen in einer jeweils gegebenen Gemeinschaft erzielt.
Völkel verdient besonderes Lob dafür, Ansätze aus der Neurobiologie, der Kybernetik und der Psychologie für die Geschichtsdidaktik fruchtbar zu machen. Dennoch ist es überraschend, dass näherliegende konstruktivistische Autoren, die in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahre intensiv diskutiert wurden, wie beispielsweise Michel Foucault, keine Erwähnung finden. Die Vorstellung des Konstruktivismus erfolgt wesentlich durch Auswertung der Sekundärliteratur zu diesem Thema. Allerdings verknüpft die Autorin die vorgestellten Studien durchaus konzentriert auf ihr Ziel einer Neubegründung der Geschichtsdidaktik hin. In diesem Bereich, dem die zweite Hälfte des Buches dient, liegt dann auch das eigentliche didaktische Interesse der Studie, die durch den Hinweis auf die eigenen Lehrerfahrungen der Autorin hochkomplexe theoretische Überlegungen und praktische Anwendung zusammenführt.
„Praxis“ ganz anderer Art findet sich in dem Bändchen „Geschichte im Internet“ von Waldemar Grosch. Neben Hinweisen zur technischen Seite der Internet-Nutzung enthält es vor allem Internet-Adressen, die für Historiker/innen von der Schule bis zur Hochschule nützlich sind. Das Spektrum reicht von Hilfsmitteln über Adressen von historischen Institutionen bis hin zu Verweisen auf Websites zu einzelnen Epochen oder Themengebieten. Die Qualität und vor allem wissenschaftliche Seriosität jeder Seite werden dabei kurz bewertet – eine wichtige Hilfestellung bei der Vielzahl letztlich unbrauchbarer Internetinformationen. Mag man auch die eine oder andere Adresse vermissen, die man gern gesehen hätte (z. B. finden sich nur relativ wenige Hinweise auf Websites mit historischen Karten), so dürften in der Welt der Hyperlinks keine großen Probleme bestehen, über die angegebenen Adressen weiter in die Tiefen des virtuellen Raumes vorzustoßen. Hilfreich wären allerdings Hinweise auf die „Konkurrenz“ gewesen – Handbücher zur Nutzung des Internet für Historiker oder Lehrer gibt es in zunehmender Zahl, und als Benutzer ist es durchaus sinnvoll, mehrere Publikationen mit ihren jeweils anderen Schwerpunktsetzungen parallel zu verwenden.
Der Umgang mit dem Internet erlaubt Lernenden und Lehrenden sicherlich ein individuelles Driften, das dem Einzelnen ganz neue Möglichkeiten zur Verfügung stellt, sich historische Zusammenhänge in eigenem Tempo und nach eigenen Interessenschwerpunkten zu verdeutlichen. Das Internet ergänzt somit die offenen Lehrformen, die in den anderen Bänden propagiert werden, um eine neue Dimension. Dennoch bleibt es hier wie dort notwendig, neben den Chancen auch die Grenzen der einzelnen Modelle nicht aus dem Blick zu verlieren. Je stärker die Selbstverantwortlichkeit der Lernenden für ihr Tun, desto größer die individuelle Herausforderung. Damit gerade Schülerinnen und Schüler daran nicht scheitern, wird die Verantwortung der „Lehrberater“ nur noch größer.
Darmstadt, Detlev Mares
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