Bender, Michael: Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen. Zur Bedeutung der Grundrechte für die Rechtsanwendung, 446 S.,Müller, Heidelberg 1991.

Häußler, Richard: Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung. Ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts, 286 S., Duncker & Humblot 1994.

Voßkuhle, Andreas: Rechtsschutz gegenden Richter. Zur Integration der Dritten Gewalt in das verfassungsrechtliche Kontrollsystem vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG., 387 S., Beck, München 1993.

Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesregierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit hat sich von Anfang an als konfliktträchtig erwiesen. Zumeist stand hierbei der Vorwurf der „Grenzüberschreitung“ in den Bereich des Politischen durch die Korrektur gesetzgeberischer Entscheidungen im Vordergrund. Die wissenschaftliche und die öffentliche Diskussion über die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen System konzentrieren sich daher vor allem auf die Frage nach den Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Weitaus geringeres Interesse hat bisher die Frage gefunden, über welche Reaktionsmöglichkeiten die politische Führung im Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht verfügt und welche Abwehrmöglichkeiten das Gericht hat. Häußlers Untersuchung gilt zunächst den rechtlichen Handlungsmöglichkeiten beider Seiten. Die rechtsdogmatische Analyse wird (fast) durchgängig durch eine anschauliche und materialreiche Darstellung der bisherigen Konfliktfälle (mit gelegentlichen Ausblicken auf ausländische Verfassungsordnungen) ergänzt; damit wird deutlich, in welchem Umfang die rechtlich zulässigen Einwirkungsmöglichkeiten in der Verfassungspraxis ausgeschöpft worden sind. Die einleitende instruktive „kleine Streitgeschichte“ zwischen Bonn und Karlsruhe reicht allerdings nur bis zum Ende der sozialliberalen Koalition (S. 22ff.). Das ist insofern bedauerlich, als gerade die politischen Reaktionen auf neuere Entscheidungen des Verfassungsgerichts die praktische Bedeutung der Frage nach den Grenzen gesetzgeberischer Korrektur von Entscheidungen des Verfassungsgerichts unterstrichen haben. Es geht hierbei zum einen darum, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der Sache zu korrigieren (S. 102ff.). Häußler sieht für solche Korrekturmöglichkeiten enge Grenzen. Allgemein als verfassungswidrig angesehen wird eine direkte Kassation verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch den Gesetzgeber. Unzulässig ist nach Ansicht des Autors aber auch der Erlass einer Norm, wenn eine inhaltsgleiche oder -ähnliche Regelung bereits vom Bundesverfassungsgericht verworfen worden ist.Die Gesetzgebungsgeschichte des § 218 StGB, aber auch die Überlegungen, auf die Kruzifix-Entscheidung oder die Rechtsprechung zur eingeschränkten Strafbarkeit des Ausspruchs „Soldaten sind Mörder“ gesetzgeberisch zu reagieren, zeigen, dass es um ein in der Staatspraxis bedeutsames Korrekturinstrument geht. Häußler will das Normwiederholungsverbot aus einer durch den Vorrang der Verfassung gebotenen „Gehorsamspflicht“ des Gesetzgebers gegenüber dem Verfassungsgericht ableiten. Das Gericht selbst billigt dem Gesetzgeber in dieser Frage neuerdings größeren Spielraum zu. Bedenkt man die Konsequenzen, die ein auch inhaltsähnliche Normen einschließendes Normwiederholungsverbot für die Gesetzgebung haben müsste, spricht vieles für diese Linie. Wenn schon subtile Änderungen den Weg zu einer Neuregelung ebnen könnten, die der verfassungsgerichtlichen Überprüfüng standhalt, kann die schwer abgrenzbare Bindung durch ein Normwiederholungsverbot die verantwortliche Einschätzung des gesetzgeberischen Handlungsspielraums nur erschweren. Noch vielfältiger sind die instiutionellen Eingriffsmöglichkeiten des Parlaments (S. 144ff.): Abgesehen von der Notwendigkeit eines für die Streitbeilegung zwischen Verfassungsorganen und im Bund-Länder-Verhältnis zuständigen Staatsgerichtshofs ist die Verfassungsgerichtsbarkeit nach Ansicht Häußlers gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber weder als Institution noch in ihrem Aufgabenbestand geschützt. Praktisch noch bedeutsamer ist, dass Zusammensetzung und Organisation des Gerichts grundgesetzlich nur rudimentär geregelt sind, also weitgehend zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stehen. Das gilt etwa für eine Änderung der Richterzahl („Richterschub“) und des Wahlverfahrens oder auch für die im politischen Raum vieldiskutierte Einführung einer Regelung, dass ein Gesetz nur mit qualifizierter Mehrheit verfassungsgerichtlich beanstandet werden kann; verfassungsrechtliche Bedenken erhebt der Verfasser nur gegen die Einführung einer einstimmigen Entscheidung im Normenkontrollverfahren, bei der die Kontrollfunktion des Gerichts selbst bei evidenten Verfassungsverstößen leerzulaufen drohe (S. 216ff.). Diese gesetzgeberischen Reaktionsmöglichkeiten werden flankiert durch faktische Eingriffsmöglichkeiten (S. 219ff.), die von der Urteils- und Gerichtsschelte über Verzögerungen bei der Nachwahl von Richtern bis hin zur Schaflung vollendeter Tatsachen während anhängiger Verfassungsstreitigkeiten reichen. Demgegenüber beschränken sich die Abwehrmöglichkeiten des Gerichts (S. 257ff.), wenn man von einer offensichtlich rechtswidrigen Bedrohung der Funktionsfähigkeit des Gerichts absieht, im wesentlichen auf öffentliche Erklärungen. Angesichts dieses hohen Maßes rechtlicher Verwundbarkeit erklärt sich die seit dem „Statuskonflikt“ um die Anerkennung als eigenständiges Verfassungsorgan (1952) relativ starke politische Stellung des Bundesverfassungsgerichts vornehmlich aus der bisher allseitigen öffentlichen Akzeptanz seiner Entscheidungen (S. 268ff.). Anzeichen dafür, dass die stabile politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht selbstverständlich ist, sind allerdings nicht zu übersehen. Häußlers Arbeit macht deutlich, dass eine Erosion der politischen Autorität des Gerichts rechtlich kaum kompensierbar wäre.

Als Gefahr für die wirksame Erfüllung der verfassungsgerichtlichen Kontrollaufgaben erweist sich zunehmend die Überlastung des Gerichts durch die große Zahl von Verfassungsbeschwerden. Der Versuch des Gesetzgebers, durch Vorschaltung eines Annahmeverfahrens Entlastung zu schaffen (§§ 93 a if BVerfGG), ist überwiegend auf Kritik gestoßen. Es erscheint zwangsläufig, dass die Diskrepanz zwischen den durch die „individualrechtliche“ Ausgestaltung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens geweckten Erwartungen einerseits und der an der grundsätzlichen Bedeutung der Sache orientierten Annahmepraxis des Verfassungsgerichts andererseits auf Dauer zu einem Vertrauensverlust führen wird. Das gilt vor allem für die mit Abstand größte Gruppe der Verfassungsbeschwerden, nämlich die gegen Gerichtsurteile erhobenen Beschwerden mit dem Ziel, das Bundesverfassungsgericht als „Superrevisionsinstanz“ anzurufen. Das Gericht hat diese Funktion stets mit dem Hinweis abgelehnt, seine Prüfung beschränke sich auf die Vereinbarkeit mit „spezifischem Verfasungsrecht“. Diese Selbstbeschränkung des Prüfungsumfangs hat nicht verhindern können, dass das Verfassungsgericht in die Anwendung einfachen Rechts durch die Fachgerichte nachhaltig eingegriffen hat. Um einen grundsätzlich neuen Ansatz für die Abgrenzung der verfassungs- und fachgerichtlichen Prüfungsbefugnisse geht es der Untersuchung von Bender. Sie will vor allem den Gedanken, dass der Schutzzweck der Grundrechte sich nicht in ihrer klassischen Abwehrfünktion erschöpft, sondern auch die rechtliche Ausgestaltung grundrechtlich geschützter Lebensbereiche verfassungsrechtlich determiniert, für das Verfassungsprozessrecht fruchtbar machen. Es gehe bei diesem Grundrechtsverständnis nicht um den „Vorrang“ der Grundrechte vor dem einfachen Gesetz. Vielmehr werde der Schutzgehalt der Grundrechte sowohl durch das konkretisierende Gesetz als auch bei der grundrechtsorientierten Entfaltung des einfachen Rechts durch die gerichtliche Rechtsanwendung aktualisiert. Die Kontrollaufgabe des Verfassungsgerichts ist damit vorgezeichnet: Sie schließt nach Ansicht Benders auch die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts ein, soweit dies der „Verwirklichung von Grundrechten dient“. Die konzeptionelle Geschlossenheit, mit der die (glänzend geschriebene) Untersuchung das ‚neue‘ Grundrechtsverständnis und seine prozessualen Konsequenzen entfaltet, ist beeindruckend. An der praktischen Tragfähigkeit des Ansatzes bleiben gleichwohl Zweifel: Der hauptsächliche Einwand gegen die Betonung einer objektiv- und teilhaberechtlichen Schutzfunktion der Grundrechte, dass bei Regelungen des einfachen Rechts eine grundrechtskonkretisierende Funktion lediglich „nachgeschoben“ werden kann, muss sich auch gegen die Schlussfolgerungen richten, die Bender aus diesem grundrechtstheoretischen Ansatz für die Kontrollaufgabe des Verfassungsgerichts zieht. Wenn sich bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen „Grundrecht und einfaches Recht nicht voneinander trennen [lassen ]“ (S. 411), ist – bei allem Scharfsinn, den Bender auf die Ermittlung von Kriterien verwendet, wann eine Rechtsnorm der Verwirklichung von Grundrechten dient – ein Ausgreifen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle in Domänen des einfachen Gesetzgebers (wie z. B. das private Vertragsrecht) vorgezeichnet. Dass ein solcher Ansatz überdies zur Entlastung des Verfassungsgerichts durch Eingrenzung des Prüfüngsumfangs wenig beitragen kann, liegt auf der Hand. Es überrascht daher nicht, wenn Benders Untersuchung zwar anerkennende Erwähnung findet, im Ergebnis die neuere Diskussion über den Kontrollumfang bei Verfassungsbeschwerden aber wenig beeinflussen konnte.

Auch Voßkuhle behandelt den verfassungsgerichtlichen Kontrollauftrag in übergreifenden Zusammenhängen. Es geht ihm vor allem um die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen für die vielfachen Einschränkungen der Rechtsbehelfsmöglichkeiten in allen Gerichtszweigen. Der Zusammenhang zwischen der gesetzlichen Einschränkung von Berufungs- oder Revisionsmöglichkeiten und der verstärkten Inanspruchnahme des „außerordentlichen“ Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde ist naheliegend und vielfach, besonders deutlich im Asylverfahrensrecht, belegt. Die zahlreichen Verfassungsbeschwerden wegen Nichtgewährung rechtlichen Gehörs in Zivil- und Strafprozessen haben das Bundesverfassungsgericht sogar zu einem bemerkenswerten Appell veranlasst, im Interesse der Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts sollten die Fachgerichte die Rechtsmittelvorschriften möglichst so anwenden, dass sie etwaige Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte im fachgerichtlichen Instanzenzug selbst beseitigen. Nach Ansicht Voßkuhles entspricht eine solche primäre Rechtskontrolle innerhalb des fachgerichtlichen Instanzenzugs der in der grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantie angelegten Arbeitsteilung zwischen Fachgerichten und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die herrschende Auffassung, das Grundgesetz garantiere Rechtsschutz durch, aber nicht gegen den Richter, lasse außer Acht, dass mit jeder gerichtlichen Entscheidung – bei unterschiedlicher gesetzlicher Steuerungsdichte – Entscheidungsspielräume in bestimmter Weise genutzt würden. Dem Richter sei insoweit originäre politische Verantwortung zugewiesen, die sich in das dem Gewaltenteilungsgrundsatz entsprechende System kontrollierter staatlicher Gewaltausübung einordnen müsse. Dementsprechend bestehe von Verfassungs wegen ein Anspruch auf rechtliche Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen, nicht jedoch auf die im heutigen Rechtsmittelsystem noch überwiegend vorgesehene umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung durch eine Berufungsinstanz. Das Verfassungsgericht sei in dieser Konzeption von allen Funktionen als „Superrevisionsinstanz“ entlastet und könne seine Prüfung auf die Frage der Grundrechtskonformität beschränken. Die Aussichten dieser kontrollorientierten Rechtsmittelkonzeption, aufgegriffen zu werden, dürften angesichts des in der politischen Diskussion dominierenden Ziels der Beschleunigung gerichtlicher Verfahren gering sein. Auch andere Fragen bleiben offen: Wird das Überlastungsproblem nicht lediglich auf das Rechtsmittelgericht verschoben? Ist diese Belastung mit der Funktion als Revisionsgericht zu vereinbaren? Voßkuhles Verdienst, die Frage nach den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für eine Reform unseres Rechtsmittelsystems neu gestellt und mit einem anspruchsvollen Untersuchungsansatz erstmals umfassend behandelt zu haben, wird dadurch nicht geschmälert. Für die Diskussion, wie eine Entlastung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu erreichen ist, macht sie vor allem die oft vernachlässigten Wechselwirkungen zwischen der Rechtsschutzgewährung in der Fachgerichtsbarkeit und der Belastung des Bundesverfassungsgerichts eindrucksvoll deutlich.

Düsseldorf, Peter Franke

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