Anja Victorine Hartmann: Rêveurs de Paix? Friedenspläne bei Crucé, Richelieu und Sully. 127 S., Verlag Dr. R. Krämer, Hamburg 1995.
Im Zentrum von Hartmanns aus einer Magisterarbeit hervorgegangenem Buch steht Éméric Crucés 1623 erstmals erschienener 'Nouveau Cynee'. Mit diesem Werk propagierte Crucé die Notwendigkeit und die institutionellen Bedingungen einer internationalen Friedensordnung, das Projekt eines 'ewigen Friedens' zwischen den Staaten also, das wie viele seiner Nachfolger sogleich als Chimäre und Produkt eines wirklichkeitsfremden Träumers abgetan wurde. Hartmann geht nun der Frage nach dem so bestrittenen Realitätsgehalt von Crucés Konzeption dadurch nach, daß sie sie mit ähnlichen Konzeptionen zeitgenössischer Autoren vergleicht, die nicht aus rein theoretischer, sonder aus praktisch-politisch interessierter und involvierter Perspektive heraus entstanden sind. Zum einen zieht sie hierzu vor allem die Instruktionen heran, die der Cardinal de Richelieu in den Jahren nach 1636 für die französischen Unterhändler beim Westfälischen Frieden verfaßt hat, zum anderen die Memoiren des Duc de Sully, in denen dieser nach der Ermordung Heinrichs IV. (1610) - dessen einflußreichster und mächtigster Minister er gewesen war - an vielen Stellen auf einen 'Grand Dessein' hinweist, den der ermordete König zur Stiftung eines dauerhaften Friedens in Europa verfolgt habe. In ihrer streng komperativ verfahrenden Studie untersucht Hartmann die drei Friedenspläne unter den Gesichtspunkten, wie sie jeweils die Realität und die darin enthaltenen Kriegsgründe bewerten, wie sie den angestrebten Idealzustand der internationalen Beziehungen beschreiben, auf welchem Wege dieser zu erreichen ist und durch welche Institutionen er schließlich gesichert werden kann.
Im Hinblick auf die Wahrnehmung der Realität und der Kriege verursachenden Gründe konstatiert Hartmann, daß bei Richlieu und Sully die Reflexion auf konkreten politischen Machkonstellationen, vor allem der Konflikt zwischen Frankreich und den Habsburgern, entscheidendes Movens war: das angstrebte System kollektiver Sicherheit diente dazu, die Macht der Habsburger dauerhaft zu beschränken und diejenige Frankreichs zu sichern (31, 53ff., 59f.). Demgegenüber argumentiere Crucé in universaler Perspektive, nicht "politisch, sondern...allgemein menschlich" (69). Mit seiner systematischen Widerlegung der verschiedenen Kriegsgründe (das Streben nach Ehre oder Profit, die Durchsetzung von Ansprüchen, den Krieg als notwendige 'exercise' anzusehen), mit denen er - wie Hartmann in einer besonders gelungenen Passage vorführt (47ff.) - jeweils verschiedene überkommene Begründungsstrategien und Traditionen der Befürworter der Ansicht, Kriege seien unvermeidlich, als ganze zurückweist, zeige er, daß es keine mögliche vernünftige Begründung kriegerischen Handelns geben könne.
Alle drei Autoren stellen der kritisierten Wirklichkeit den Entwurf eines 'Systems kollektiver Sicherheit' (97) gegenüber, durch das Gewaltanwendung zwischen Staaten verhindert und Streitigkeiten gemeinsam geschlichtet werden sollen - in letzter Konsequenz durch Anwendung militärischen Zwangs der Vertragsgemeinschaft. Während Crucé und Sully die Einrichtung einer zentralen internationalen Instanz anstreben, einer Versammlung, der die Deputierten der Mitgliedsstaaten angehören, die verbindliche Entscheidungen treffen kann und die notwendigen Zwangsmittel besitzt, diese auch gegen Widerstreben zu exekutieren, sieht Richelieus Modell keine solche Instanz vor. Auch im Hinblick auf die Entstehung und Einrichtung dieses Friedenssystems aber schlägt letztlich wieder die Differenz zwischen dem 'Theoretiker' Crucé und den 'Praktikern' Sully und Richelieu durch: während diese die Friedensordnung als Resultat einer Verallgemeinerung zunächst antihabsburgisch ausgerichtete Ligen konzipieren, entspringt sie bei Crucé den Willensakten der Souveräne potentiell aller Staaten dieser Welt, durch die sie die Konsequenz aus der Einsicht in die Nutzlosigkeit wie die Vernunftwidrigkeit von Kriegen ziehen.
Außerordentlich gründlich und lehrreich ist Hartmanns Exposition wie auch ihr Vergleich dieser Positionen. Problematisch wird es, wenn implizit oder explizit versucht wird, den Realisierungschancen der Friedensprojekte, ihrer möglichen Aktualität sowie ihrer theoretischen Angemessenheit angesichts der modernen Staatenwelt nachzugehen. So sieht Hartmann die Gründe für die Nichtrealisierung des Systems kollektiver Sicherheit, das doch alle behandelten Autoren anstreben, in komplementären Defiziten begründet: während bei den Praktikern Richelieu und Sully die Friedensorganisation vornehmlich Instrument einer antihabsburgisch gerichteten Politik sei und somit keinen allgemeinen Wert biete, für den es sich einzutreten lohne, fehle dem Konzept des Theoretikers Crucé umgekehrt alle Konkretion: Es hätte "die Vision des allgemeinen Friedens der unmittelbaren Anknüpfung an die jeweils konkreten, zeitgebundenen Interessen jedes einzelnen Staates bedurft, um...als 'politische Stimme', die für religiösen, politischen und wirtschaftlichen Kosmopolitismus plädierte", wahrgenommen zu werden: "Dieser Mangel an konkreten politischen Bezügen und das daraus resultierende Desinteresse in politischen Kreisen haben vermutlich, mehr als das eigentliche Programm des 'Nouveau Cynee', dazu geführt, daß die Schrift als Utopie und unrealisierbares Gedankenexperiment angesehen, als politisches Programm dagegen übersehen wurde" (113f.). Dieser Kurzschluß der Verfasserin von einer angemessenen Balance zwischen allgemeiner philosophischer Begründung und ihren praktisch-politischen Vermittlungsweisen auf die konkreten Realisierungschancen abstrahiert doch allzusehr von der Komplexität gesellschaftlicher und politischer Prozesse, deren Analyse erst ein Urteil darüber erlaubt, warum gewisse historische Optionen verwirklicht wurden, andere hingegen nicht.
Erst recht sind im Hinblick auf Hartmanns zuweilen durchscheinende Annahme einer ungebrochenen Aktualität jener Konzeptionen Zweifel angebracht. Dies zeigt schon ein kurzer Blick auf das Problem, inwiefern sie überhaupt konzeptionell den Verhältnissen sind, wie sie sich in der Neuzeit herausgebildet haben. Hartmanns - in der Wendung gegen Sullys oder Richelieus Modelle berechtigtes - Insistieren auf Crucés Universalismus, auf seiner von den konkreten historischen, politischen und religiösen Verhältnissen abstrahierenden Begründung für die Notwendigkeit, auf Kriege vollständig zu verzichten, tendiert dazu, die Verankerung auch dieses Autors im traditionellen Naturrecht zu unterschätzen. Denn hinter Curcés Appell, Kriege nicht nur als jeder persönlichen Nutzenkalkulation, sondern auch der vernünftigen Einsicht in "diei Grundlage der Menschlichkeit und damit aller anderen Tugenden" (27) widersprechend zu erkennen, steht noch die christlich-stoische Idee einer societas humana: der "lumiere de raison" ist ein "sentiment d'humanité" beigesellt, und "la societé est vn corps, dont tous les membres ont vne sympathie, de maniere qu'il est impossible que les maladies de l'vnne se communiquent aux autres" (Crucé, zit. S. 28). Einmal befreit von "der allgemeinen Verblendung" und der "weitverbreiteten Ignoranz und dem daraus resultierenden Hang zur Grausamkeit" (52, 60), wird sie Notwendigkeit des Krieges durchbrochen: "der vernünftige Mensch und gute Fürst...durchschaut die Sinnlosigkeit des Krieges und bleibt friedlich" (52). Die allgemeine, das Recht setzende und durchsetzende Instanz ist dann nur mehr "eine zusätzliche Sicherung des Friedens" (75).
Im neuzeitlichen politischen und rechtsphilosophischen Denken seit Hobbes ist eine solche Strategie zur Begründung gewaltfreier, rechtlicher Beziehungen unter Rückgriff auf eine übergreifende Ordnung, aus der jedem das Seine zugewiesen und das jeweils richtige Handeln abgeleitet werden könnte, nicht mehr möglich; nunmehr wird eine neuartige Diagnose der Konfliktursachen entwickelt, die unabhängig vom Rekurs auf einen 'guten' oder 'bösen Willen' der Akteure ist. Die Individuen wie die Staaten stehen sich in dieser Konzeption als freie und gleiche Subjekte gegenüber, die ohne übergreifende, ein bestimmtes Handeln allgemeinverbindlich und ge- und verbietende Rechtsordnung notwendig in unlösbare Konflikte miteinander geraten, da alle subjetiv erhobenen Rechtsansprüche auf irgendeine äußere Handlung von allen anderen Akteuren mit dem gleichen Recht für sich reklamiert werden können. Die Aufhebung des permanenten Kriegszustandes erfordert eine Beschränkung der Freiheit der Akteure, die ihren Grund und ihre Rechtfertigung nirgends finden kann als in ihrem freien Willen selbst. Die vernünftige Reflexion auf die Verwirklichungsbedingungen dieser Freiheit zeigt die Notwendigkeit einer allgemeinen Instanz, die das Recht für alle verbindlich setzt, anwendet und exekutiert. Die Einrichtung einer Instanz, die das Handeln der einzelnen auf seine Verträglichkeit mit dem aller anderen einschränkt, ist somit nicht 'zusätzliches Instrument', sondern konstitutive Bedingung für die Herstellung einer Ordnung freier Handlungsubjekte, in der die notwendig eintretenden Konflikte ohne Rückgriff auf Mittel physischer Gewalt gelöst werden können. Nicht bei Crucé, schon gar nicht bei Sully oder Richelieu, sondern erst beim Abbé de Saint-Pierre, bei Rousseau und Kant wird - ungeachtet aller Unterschiede zwischen ihnen - die Begründung einer internationalen Friedensordnung auf diese Ebene gehoben werden.
Marburg, Olaf Asbach
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