Unbefriedigende Darstellungen zur Geschichte Rußlands
Heiko Haumann: Geschichte Rußlands. 736 S., Piper, München 1996.
Edgar Hösch: Geschichte Rußlands. Vom Kiever Reich bis zum Zerfall des Sowjetimperiums. 450 S., W. Kohlhammer, Stuttgart 1996.
Man geriete in Verlegenheit, sollte man zwei oder drei wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellungen zur Geschichte Rußlands bzw. der Sowjetunion nennen. Den monumentalen Werken Nipperdeys und Wehlers zur Geschichte Deutschlands hat die Osteuropahistorie nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Geschichten Rußlands waren immer Geschichten von der hohen Politik, die in diesem Land bekanntlich stets wenig ausrichtete. Die Perspektivenverengung mag damit zusammenhangen, daß die Geschichtsschreibung des Alltags, der Ethnien und Kulturen des zarischen wie des sowjetischen Imperiums über ihre Anfänge noch nicht hinaufgekommen ist. In der universitären Lehre ist dieser Mangel oftmals spürbar. Es gab deshalb gute Gründe, das bislang Erreichte zu synthetisieren und die Vieldeutigkeit der Zugänge zu bezeichnen, derer sich inzwischen auch die Osteuropa-Historie bemächtigt hat. Man wird allerdings nicht behaupten können, daß die nun vorliegenden Gesamtdarstellungen aus der Feder der Historiker Heiko Haumann und Edgar Hösch solche Wünsche erfüllen.
Immerhin ist Haumanns Buch ansprechend ausgestattet. Es ist reichlich bebildert und schließt mit einer vorzüglichen Bibliographie, die Studenten und Lehrenden das schwere Los der Literatursuche erleichtern wird. Haumann schreibt verständlich, ohne ins Oberflächliche abzugleiten. Streckenweise bestechen die Ausführungen Haumanns zur Geschichte des Zarenreiches durch detaillierte Sachkenntnis und darstellerische Kraft. Dies gilt besonders für die Beschreibung der politischen und sozialen Verfassung der Kiever Rus', der Ausbildung des Dienstadels seit Ivan 111. und des Lebens und Wirtschaftens der Bauern im Rußland der Frühen Neuzeit. Zu den gelungenen und lehrreichen Abschnitten des Buches gehören zweifellos auch die Kapitel über das Leben der Bauern am Vorabend der Bauernbefreiung und über das Phänomen der bäuerlichen Saisonarbeit in den russischen Industriezentren des 19. Jahrhunderts. Solchermaßen präsentiert, liest man Bekanntes gern noch einmal.
Die Nachteile überwiegen indessen die Vorzüge dieses Werkes. Haumann übergeht wichtige Aspekte seines Themas mit Schweigen, ohne indessen Gründe für die Versäumnisse zu nennen. Speranskijs bahnbrechende Reformen der Verwaltung und des Rechts im frühen 19. Jahrhundert werden nur am Rande erwähnt. Hinweise auf die unter Nikolaj 1. einsetzende Professionalisierung des Beamtenstabes sucht man vergeblich. Auch die Militär- und Universitätsreformen Alexanders 11. hielt Haumann offensichtlich für nicht ergänzungsbedürftig. Die übrigen Reformen der sechziger und frühen siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die das politische und soziale Gefüge des Zarenreiches tiefgreifend veränderten, sind Haumann nur wenige Seiten wert. Von ihrer Implementierung und ihren Folgen ist schon gar keine Rede. Daß die sogenannten "Gegenreformen" Alexanders 111. im Fortgang der Erörterung gleichermaßen ignoriert werden, verwundert deshalb nicht. Denn diese hatten zu korrigieren versucht, was sich bei der Umsetzung der liberalen Reformen als unverträglich mit der russischen Wirklichkeit herausgestellt hatte.
Was Haumann zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie zu sagen hat, bewegt sich auf den konventionellen Pfaden jener Geschichtsschreibung, die sich Nationalitätenpolitik immer nur als Russifizierungspolitik vorstellen konnte. Die regional variierenden Voraussetzungen für ethnisches oder nationales Bewußtsein bleiben ungenannt. So jedenfalls wird der Eindruck erweckt, als sei das Zarenreich stets ein Hort der nationalen Unterdrückung, des Kolonialismus und der Fremdherrschaft gewesen.
Haumann spart auch den gewalttätigen Terrorismus, die Streikbewegungen und die Aufstände in den nichtrussiscben Randgebieten zwischen 1905 und 1907 aus seiner Darstellung aus. Dem mystischen Messianismus Alexanders 1., der in ihrer Wirkungsmächtigkeit erwiesenermaßen maßlos überschätzten revolutionären Bewegung des 19. Jahrhunderts
und den Aktivitäten weiblicher Sozialdemokraten räumt Haumann hingegen breiten Raum ein.
Die Sowjetunion ist in diesem Buch schwächer vertreten als das Zarenreich. Auch qualitativ fällt die Darstellung im Vergleich zum Vorausgegangenen stark zurück. Sie ist lückenhaft und ohne inneren Zusammenhang. Die Stalin-Ära ist Haumann nur wenige Seiten wert, die abschließenden Kapitel über die Sowjetunion unter Breznev und Gorba~ev haben nur geringen Informationswert.
Die Revolutionen des Jahres 1917 finden bei Haumann nur in Moskau und Petrograd statt. Auch wo vom Bürgerkrieg die Rede ist, fehlt der Hinweis auf die kriegsentscheidende Bedeutung der Peripherie. Die NEP-Periode betrachtet Haumann vorwiegend aus der Perspektive der hohen Politik. Über den Alltag der Arbeiter und Bauern, die Prinzipien der sowjetischen Nationalitätenpolitik und über das Leben in den nichtrussischen Regionen des Reiches schweigt sich die Darstellung aus.
H. erklärt Ursachen und Verlauf des stalinschen Terrors der dreißiger Jahre im Verweis auf den Kirov-Mord vorn Dezember 1934 und die Moskauer Schauprozesse. Stalin ist in dieser Interpretation Initiator und Lenker der Terrorwelle. Die in der neueren Forschung aufgeworfene Frage nach Profiteuren und Institutionellen. Stützen der Gewalt, der Eigendynamik und "Zweckentfremdung" des Terrors auf der lokalen Ebene findet nicht einmal eine beiläufige Erwähnung. Angesichts des personalistischen Erklärungszuganges erstaunt es aber, daß selbst Stalin in diesem Buch eine Statistenrolle einnimmt.
Haumanns Vorlieben zeigen sich hier deutlicher als in den Kapiteln über das Zarenreich. Die Alternativen der politischen Ordnungen in den Revolutionsjahren 1917/18 behandelt Haumann auf der politisch-programmatischen Ebene. Man hätte sie aber an den Möglichkeiten messen müssen, die zu ihrer Realisierung tatsächlich bestanden. Die zu Beginn der 2oer Jahre innerhalb der Kommunistischen Partei aufbrechende Debatte über die Frage, ob der Eintritt in den Staatskapitalismus dem unmittelbaren Übergang zum Sozialismus vorzuziehen sei, empfanden bereits einsichtige Zeitgenossen als weltfremd und scholastisch. Ex Post dokumentiert ein Verweis auf solche Debatten nicht mehr als die Wahrnehmungsbeschränkung der intellektuellen Wortführer des sowjetischen Sozialismus. Haumann widmet ihr in seinem Buch annähernd zehn Seiten mehr Platz als sie unter dem Gesichtspunkt historischer Relevanz verdienen.
Jede epochenübergreifende Gesamtdarstellung ist Beschränkungen unterworfen. Vollständigkeit ist weder erreichbar, noch wünschenswert. Aber man sollte die Gründe nennen, die dafür sprechen, daß dem Leser einiges erzählt und anderes vorenthalten wird. Haumann verzichtet auf die Nennung erkenntnisleitender Leitfragen und Auswahlkriterien. Historiographie, die nicht bloß Datensammlung sein will, sondern erklären möchte, wird auf Fragestellungen nicht verzichten können. Das bloße Erzählen von Ereignissen schafft keine Zusammenhänge, die dem Leser etwas zu Verstehen geben. An dieser Stelle mag man sich fragen, welchen Erkenntniswert etliche Jahrhunderte überspannende Darstellungen überhaupt haben können. Mir will nicht einleuchten, daß zwischen der Klever Rus' und der Stalinschen Sowjetunion ein evidenter, nicht erklärungsbedürftiger Zusammenhang bestehen soll.
Gleichwohl nährt sich die Darstellung von einer spezifischen Sicht auf das Gewesene. Sie steht in der Tradition einer Geschichtsschreibung, die "aufklären" und "orientieren" will. Haumann versteht Geschichte als Kontinuum sukzessiver Emanzipations- und Befreiungsereignisse. Menschen leben in Krisen, bewältigen sie im Sinne emanzipatorischer und sozialrevolutionärer Konzepte. Raumarm entdeckt im Moskau des 14. Jhs. "sozialrevolutionäre Tendenzen" (S.110), entlarvt "kirchlich-frauenfeindliche Tendenzen" im Rußland des frühen 17. Jhs. (5.215) und wertet die Kosaken- und Bauernunruhen Stepan Razins und Pugacevs als sinnfälligen Ausdruck einer Periode im Umbruch, in der sich angeblich alle Werte veränderten (S.250). Haumann erklärt das Ensemble der Bauernrebellionen, Arbeiteraufstände und ethnischen Konflikten zu Meutereien gegen eine vermeintlich anachronistische Ordnung und als Fanal des Aufbruchs zu neuen Ufern. In Transkaukasien hätten die Bauern 1917 die Behörden vertrieben und eine "eigene Selbstverwaltung" errichtet (5.418). Es verwundert nicht, daß in dieser Interpretation die nachweislich wenig wirkungsmächtige Partei der Konstitutionellen Demokraten als eine starke, im Volk verwurzelte politische Bewegung erscheint. Das alte Regime - so will Haumann Glauben machen -sei an seiner Unfähigkeit zerbrochen, liberale, emanzipationsfördernde Reformen energisch voranzutreiben. Letztlich sei daran auch die
Provisorische Regierung gescheitert. Haumann bringt es auf die altmodische Formel:
"Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse entsprachen sich nicht mehr" (5.442). Daß Menschen auch deshalb rebellieren, sich Bedrängungen widersetzen, weil ihnen die Zumutungen der "Moderne" nicht behagen, ist indes keine neue Erkenntnis mehr. Modernisierung in dem Sinne, wie Haumann sie versteht, ging in Rußland vom Staat aus. Er setzte sie größtenteils gegen die Bevölkerung durch. Die Revolution des Jahres 1917 ging, wo das Volk sie trug, in der Restituierung überkommener Rechte und Traditionen auf. Sie war mitnichten eine Revolte gegen den Konservativismus der zarischen Regierung.
Freiheit und Sozialismus, so wie die russischen Kommunisten sie verstanden, stehen für Haumann miteinander im Einklang. Die Aufgabe revolutionärer Utopien und "sozialistischer Inhalte" im Zuge der Neuorientierung des Stalinschen Regimes in den späten 3oer Jahren habe deshalb in der Bevölkerung Resignation und Enttäuschung ausgelöst (5.559). Auch die Abkehr von revolutionären Strategien der Frauenemanzipation stand demnach im Zusammenhang mit der Beschneidung bereits erreichter Freiheiten. Eine solche Sicht auf das Vergangene unterschlägt die kulturelle Vielfalt historischer Emanzipationsformen, läßt mithin außer Betracht, daß Empfindungen von Freiheit kontextabhängig sind. Was aus Moskauer Sicht als Emanzipation erschien, erfuhren die Betroffenen als kulturimperialistischen Eingriff in ihre Lebenswelt. Die Aufwertung traditioneller Lebensformen unter Stalin folgte der Einsicht, daß Stabilität von der Loyalität der Herrschaftsunterworfenen abhing.
Haumann versichert im Vorwort, er wolle die russische Realität in ihrer Eigenart verstehen und sie nicht Modellen unterwerfen, die aus den "Vorgängen im Westen" abgeleitet worden seien. Dieser Anspruch wird aber sogleich wieder aufgehoben. Denn Haumann möchte nachweisen, daß Rußland Teil Europas war und ist. Daraus spricht ein Kulturverständnis, das sich die Moderne nur als europäische Moderne vorzustellen vermag. Allein die Unterstellung, daß das Nicht-Europäische zugleich das Barbarische ist, verleiht dem Postulat, die Zugehörigkeit zum europäischen Kulturverbund sei ein erstrebenswertes Ziel, überhaupt noch einen Sinn. Die Pluralität der Moderne und der Entwicklungswege ist ernsthaft nicht mehr zu bestreiten. Es wäre an der
Zeit, daß sich diese Einsicht auch unter den deutschen Rußland-Historikern verbreitet.
Auch Höschs "Geschichte Rußlands" wird den Ansprüchen nicht gerecht, die an solche Darstellungen inzwischen gestellt werden müssen. Hier erschöpft sich Geschichtswissenschaft noch in einer Chronologie, hinter der die Zusammenhänge völlig verschwinden. Hösch gliedert seinen Stoff in zeitlicher Abfolge und überläßt es dem Leser, sich in der Vielfalt nicht miteinander verbundener Fakten und Ereignisse zurechtzufinden. Streckenweise, so etwa im Kapitel über die Chruscev-Ära, erinnert das Buch an die vom Autor vor einigen Jahren herausgegebenen Datensammlungen zur russischen bzw. sowjetischen Geschichte. Oftmals folgen in einem einzigen Absatz mehrere Sätze aufeinander, die in keiner anderen Verbindung zueinander stehen, als daß sie eine Abfolge von beliebigen Ereignissen bezeichnen (5.399, 5.402). Die spärlichen und für die Forschung kaum repräsentativen bibliographischen Hinweise am Schluß des Bandes sind unbrauchbar. Für den Verzicht auf Fußnoten und Literaturhinweise mag der Verlag verantwortlich sein. Angesichts der Fülle des Zahlenmaterials und gar mancher Wertungen, die in diesem Buch ausgebreitet werden, hätte man aber gern etwas über ihre Herkunft erfahren.
Das Buch geht methodisch über eine konventionelle Geschichtsschreibung politischer Ereignisse nicht hinaus.
Bisweilen läßt die Darstellung die Fühlung zum neuesten Forschungsstand vermissen. So schreibt Hösch die längst in Zweifel gezogene These fort, die Agrarreform des Jahres 1861 habe den Eintritt in die Industriegesellschaft erschwert, weil der Zwangsverband der bäuerlichen Umteilungsgemeinde sich nicht "in eine im Aufbruch befindliche bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft" habe einfügen können (5.274). Die Gegenreformen Mexanders 111. (1881-1894) im Verwaltungs- und Justizwesen erklärt Hösch zur "Konterrevolution". Man fragt sich, welche Revolution der Autor gemeint haben mag, die es zu bekämpfen galt. Die Korrekturen an den liberalen Reformen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts führt Hösch auf den Druck der revolutionären Bewegung zurück, wenngleich diese bereits ausgeschaltet war, als sich die Regierung anschickte, die Reform der Reform umzusetzen. Die Behauptung schließlich, für den zarischen Staat habe es stets nur den "Zielkonflikt zwischen Bewahrung und Fortschritt" (5.292) gegeben, wird der Komplexität der Probleme im sozial, kulturell und ethnisch äußerst heterogenen Zarenreich kaum gerecht.
Der Stalinismus ist in der Interpretation Höschs synonym mit der persönlichen Herrschaft Stalins, der Terror eine von Stalin inszenierte Serie von Tötungsdelikten. Man kann diese, in den fünfziger und sechziger Jahren häufig vertretene Auffassung, freilich verbreiten. Sie sollte indessen begründet und gegen die Ergebnisse der neueren Forschung abgewogen werden. Es hätte zumindest eines Hinweises bedurft, daß stalinistische Herrschaft auch als soziale Praxis, als ein Ensemble von Verhaltensweisen und Traditionen verstanden wird, die unter den spezifischen Bedingungen der späten 2oer Jahre wirkungsmächtig wurden. Es ist wenig überzeugend, die Ursprünge des Terrors auf die Auseinandersetzungen Stalins mit seinen innerparteilichen Widersachern in den 2oer Jahren zurückzuführen. Inzwischen ist die Historiographie über diesen Kenntnisstand hinausgekommen;
Höschs Versicherung schließlich, Stalin habe im Nationalsozialismus die Chance erblickt, ohne eigenes Zutun die Selbstzerstörung des kapitalistischen Systems in Gang zu setzen und den Weg für die Weltrevolution freizumachen, scheint mir aus der Luft gegriffen. Dem Spätstalinismus nach 1945 sind nur wenige Sätze gewidmet. In einem dieser Sätze entlarvt Hösch Stalin als einen Anhänger des Sprachwissenschaftlers Marr, der die Sprache bekanntlich als Phänomen des Überbaus betrachtet hatte (5.388). In seinen linguistischen Briefen hatte Stalin jedoch im Gegenteil Marr ausdrücklich widersprochen und der Sprache eine vom Überbau unabhängige, eigenständige Existenz zugeschrieben. Deshalb vertrat Stalin auch nicht die Auffassung, das Schicksal der nichtrussischen Sprachen sei es, im Russischen aufzugehen, wie Hösch behauptet.
In der Einleitung wird der Anspruch formuliert, Rußland aus der Perspektive seiner regionalen und ethnischen Vielfalt zu betrachten. Die Darstellung ist jedoch weit davon entfernt, diesem Anspruch gerecht zu werden. Hösch begreift die Peripherie bloß als vom Zentrum geknechtetes Konglomerat nichtrussischer Völker. Die Völker des Imperiums werden so nur als Objekte zentraler Beherrschung wahrgenommen. Über die betroffenen Regionen und ihre Bewohner teilt das Buch nichts mit. Das Zarenreich gilt Hösch als Völkerkerker. Die unifizierenden Verwaltungsreformen des 19. Jahrhunderts, die sukzessiv
auch die Peripherie des Reiches erreichten, seien von "chauvinistischen russischen Kreisen" (5.296) forciert worden. Dabei waren es insbesondere solche Minister, die Rußland als Rechtsstaat im preußischen Sinne verstanden und Anschluß an einen allgemeinen europäischen Trend suchten, denen an einer Vereinheitlichung der Reichsverfassung lag. Daß Hösch die Ersetzung der anachronistischen mittelalterlichen Ständeordnung der deutsch-baltischen Ritterschaften durch zeitgemäßere Formen der Verwaltung als Beleg für seine Behauptung anführt, spricht für sich. Von einem Völkerkerker kann nur sprechen, wer nachweist, daß die Ethnien des Zarenreiches nationale Ansprüche formulierten, die einen Verbleib im Imperium ausschlossen. Dieser Nachweis dürfte kaum zu führen sein. Hösch verwechselt Eliten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts allenthalben nationale Ansprüche formulierten, durchgängig mit Nationen. So kommt es zu der zweifellos ahistorischen Feststellung, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sei der "nationale Zusammenhalt der Ukrainer" durch den Zustrom russischer Arbeitsmigranten "ernsthaft gefährdet" worden (5.300). In der relevanten Forschungsliteratur ist hingegen völlig unstrittig, daß von einer ukrainischen Nation im 19. Jahrhundert überhaupt nicht gesprochen werden kann.
Die Nationsbildungsprozesse in der frühen Sowjetunion übergeht Hösch mit Schweigen. Im Anschluß an die ältere Forschungsliteratur wird die sowjetische Herrschaft als Fortsetzung imperialer Dominanz und Unterdrückung kleiner Völker verstanden. Daß die Sowjetunion der 2oer und 3oer Jahre ein brutaler Zwangsstaat war, wird ernsthaft niemand in Abrede stellen wollen. Gleichwohl ermunterte dieser Staat die Ausbildung von Nationen. Dies geschah auf dem Wege der Territorialisierung des Ethnischen auch dort, wo nationales Bewußtsein noch nichts galt. Nirgendwo in diesem Buch wird das Problem der Nationswerdung auf angemessene Weise erörtert, keine der Voraussetzungen genannt, aus denen Nationalbewußtsein entspringen kann.
Der Zerfall der Sowjetunion ist kein Resultat einer Jahrzehnte andauernden Unterdrückung des Strebens nach Nationalstaatlichkeit, wie Hösch versichert. Er ist unter anderem eine Folge der sowjetischen Nationalitätenpolitik, die die Nation zum Organisationsprinzip der Staatlichkeit überhaupt erhob. Angesichts der Tatsache, daß nach dem Zerfall der Sowjetunion im Kaukasus, in Zentralasien
und selbst in Weißrußland die ehemals mächtigen kommunistischen Potentaten mit Unterstützung der Bevölkerung an die Macht zurückgekehrt sind, spricht wenig für die These Höschs, der Sozialismus sei "Fluch und Belastung"(4l6) gewesen und die "Völker des eurasischen Raumes" hätten "unter der kommunistischen Parteiherrschaft ein unsägliches Martyrium durchlitten" (5.416). In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden solche Ansichten von manchen Historikern freilich vertreten. Sie legitimieren nationale Geschichten und politische Herrschaft. Anspruch auf Wissenschaftlichkeit können sie nicht erheben. Man sollte ihnen deshalb mit der gebotenen Vorsicht begegnen.
Tübingen, J. Baberowski
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