John Doyle Klier: Imperial Russia`s Jewish Question 1855 - 1881. 534 S., Cambridge University Press, Cambridge 1995.
In seinem Buch »Russia Gathers her Jews: the Origins of the Jewish Question in Russia, 1772-1825« befaßte sich der Autor mit den Wurzeln jüdischer Geschichte im Zarenreich, die mit den polnischen Teilungen ihren Anfang genommen hatte. Klier untersuchte, was die »Jüdische Frage« für Rußland bedeutete, wie sich die Russen ihrer überhaupt bewußt wurden und wie sie mit ihr umgehen wollten.
Im vorliegenden Werk beleuchtet der Autor die gleichen Fragen, legt den Schwerpunkt aber auf das Zusammenspiel zwischen öffentlicher Meinung und offizieller Politik. Er befaßt sich mit der Lage der jüdischen Bevölkerung, nachdem sie nun schon gute hundert Jahre dem russischen Reich eingegliedert ist. Er vertieft sich in die Zeit der Großen Reformen, der Russifikation und schließt seine Arbeit mit der Ära des sozialen Wandels und der wirtschaftlichen Umwälzungen Ende des 19. Jahrhunderts.
Klier hatte sich bemüht, alle zeitgenössischen russischen Publikationen einzubeziehen, die sich mit der »Jüdischen Frage« beschäftigten, Zeitungen und Zeitschriften, Bücher und Broschüren sowie die offizielle Dokumentation.
Im Zuge der Reformen (1855-1881) wurde die Leibeigenschaft aufgehoben, das Rechtswesen und die Verwaltung neu gestaltet. Der soziale und wirtschaftliche Wandel und die wachsende nationale Identität der Russen führten zur Auseinandersetzung mit ethnischen Minderheiten: Die »Jüdische Frage« wurde eines der meist debattierten Themen in Rußland. Die Einstellung und das Verhalten verschiedener Kreise der gebildeten russischen Gesellschaft gegenüber den Juden führten zu Standpunkten, die bis zur Revolution und sogar darüber hinaus bestehen blieben. Bis in die frühen 1860er Jahre beschränkten sich diese Abhandlungen auf philosophische Debatten, auf den »nationalen Charakter« der Juden und mündeten jeweils in guten Absichtserklärungen jüdischer und christlicher Sprecher. Die »russische jüdische Intelligenz«, eine durch die Reformen neu entstandene Gruppe, versuchte inmitten eines multi-ethnischen Staates eine moderne jüdische Identität zu definieren. Diese jungen Aktivisten gewannen die Aufmerksamkeit, Sympathie und Unterstützung der russischen Gesellschaft durch ihre Absicht und ihre Bemühungen, die traditionelle jüdische Gemeinde in die moderne Welt zu ziehen. Es entwickelte sich eine vager Konsens, die jüdische Bevölkerung sei auf die eine oder andere Weise mit der russischen gleichzusetzen, die selbst inzwischen an Toleranz und Aufgeklärtheit gewachsen war. Auf jüdischer Seite war eine Annäherung an die russische Bevölkerung grundsätzlich erwünscht, die Aneignung der russischen Sprache etwa galt als selbstverständlich, doch konnte man sich nicht darüber einigen, wie weit Teile jüdischer Identität und Kultur, wenn überhaupt welche, bewahrt werden sollten (S. 452). Klier untersucht den Übergang von dieser theoretischen Diskussion zum praktischen Umgang mit der Fremdheitsproblematik. Der polnische Aufstand 1863 rückte die Frage, wie mit Nationalitäten umzugehen sei, in den Mittelpunkt und die jüdische Bevölkerung bekam als eine bedeutende Minderheit einen neuen Stellenwert. Schließlich befaßt sich Klier mit der Zeit nach 1870. Die Großen Reformen waren vollzogen und das Zarenreich begann unter der einsetzenden Modernisierung zu leiden. Der rasche soziale und wirtschaftliche Wandel drohte den naiven Optimismus der vorhergehenden Jahrzehnte zu verdrängen. Diese Zeit der Desillusionierung nährte die Vorstellungen okkulter und dämonischer Formen antijüdischer Vorurteile. Die Kenntnisse vom Judentum waren bescheiden. Über den talmud etwa wußte man nur, daß er »schlecht« war (S. 451). Das Judentum war den Russen so fremd, das sie - vom Ausland und seinen Vorurteilen lernend - Ritualmord für eine mögliche Gegebenheit hielten: In der Tat wurden Kriminalfälle auf Hinweise untersucht, die derartige Verbrechen vermuten lassen könnten. Bemerkenswert ist die Feststellung, daß die antijüdische Haltung westeuropäischer Polemik, vor allem der deutschen, entnommen wurde und die russisch-orthodoxe Kirche sich eher durch Desinteresse auszeichnete (S.455). Besonders wenn man an den aktiven Einsatz der katholischen Kirche gegen das Judentum denkt, doch ein ungewöhnlicher Umstand.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die rechtliche Lage der Juden zwar allmählich verbessert, doch stellte sich die russische Öffentlichkeit gegen sie. Die zuvor verbreitete Meinung, die Juden müßten reformiert werden -und dies sei machbar - wich einem antijüdischen Argwohn. Die Befürworter und Gegner einer Gleichstellung wurden von einer dritten Gruppe, den Revolutionären, ergänzt. Diese sahen in den Juden nur das bourgeoise Element, das bekämpft werden mußte. Der Kreis schließt sich mit einem Einvernehmen zwischen der öffentlichen Meinung und der offiziellen Politik. »If official policy did not yet follow the lead of public opinion, it required only the crisis triggered by the pogroms of 1881 to transform public prejudice into official policy.« (S.4SS)
Gewisse Schlußfolgerungen sind zwar nicht zwingend, etwa »Russia's humiliation in the Crimean war focused the min of Alexander II. and his advisors on the need for internal reform.« (S. 13) Verlorene Schlachten führen oft zur Reorganisation des Kriegsheeres, Erhöhung der Steuern, Mobilisierung neuer Soldaten - nicht unbedingt zu Menschenrechten. Alexanders Fortschrittlichkeit und Reformfreude sind wohl eher seiner aufgeklärten Erziehung zu verdanken. Schon bald nach seiner Thronbesteigung im Frühjahr 1855 hatte er die Bereitschaft bekundet, in Friedensverhandlungen einzutreten.
Das vorliegende Werk ist zu großen Teilen mehr beschreibend als interpretierend. Quellenauszüge und Zitate sind so aneinandergereiht, daß sich ein logisches Bild wie von selbst ergibt und es keiner besonderen Erklärungen mehr bedarf.
Umsichtig vermeidet der Autor Begriffe wie »Antisemitismus« und »antisemitisch«, da sie deutschen Ursprungs sind und in Rußland nur verwendet wurden, wenn es galt, auf ausländische Phänomene hinzuweisen. (5. XIX)
In seiner Analyse mag dieses Buch zwar für Kenner der Situation der jüdischen Bevölkerung in Rußland keine großen Überraschungen bergen, durch die sorgfältige Arbeit Kliers bietet es aber unzählige anregende Einzelheiten, ohne sich zu sehr in ihnen zu verlieren. Ein interessanter und ausführlicher Beitrag zur Geschichte russischer Juden und der Entstehung und Entwicklung der »Jüdischen Frage« in Rußland, der auf solider historischer Arbeit fußt. Die vielen Zitate fließen passend in den Text ein, lockern ihn auf und untermauern die Aussagen und Schlußfolgerungen: ein gut lesbares, fesselndes und aufschlußreiches Buch.
Basel, Desanka Schwara
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