Reinhart Koselleck / Michael Jeismann (Hrsg): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. 440 S., Wilhelm Fink Verlag, München 1994.
Seitdem die Kriege nicht mehr von Konskribierten und Söldnern geführt werden, sondern von Wehrpflichtigen und Freiwilligen, also seit der Französischen Revolution mit der nachfolgenden Levée en masse und seit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in Preußen, hat sich das Bedürfnis durchgesetzt, nicht nur den Fürsten und Feldherren Denkmäler zu setzen, sondern jedes einzelnen Gefallenen zu gedenken, auch des einfachen Soldaten. Seither - und die zahlreichen Kriege der vergangenen zweihundert Jahre boten hinreichende Anlässe - wurden die Schlachtfelder und Friedhöfe, die Kirchhöfe und Marktplätze in Städten und Dörfern ganz Europas, seit dem amerikanischen Bürgerkrieg auch in den USA und seit dem Ersten Weltkrieg in vielen weiteren Weltteilen von einer nicht zu schätzenden Zahl von Kriegerdenkmälern überzogen. Die Geschichte und Gestalt dieser Denkmäler zu untersuchen, ist ein außerordentlich spannendes Unternehmen. Die Kriegerdenkmäler und der mit ihnen verbundene Kult bieten eine Fülle von mentalitätsgeschichtlichen, sozialhistorischen und ästhetischen Aufschlüssen über den Umgang mit dem gewaltsamen Tod in den modernen Gesellschaften.
Im Tod sind alle Soldaten gleich. Sie sind, seit sie nicht mehr für die dynastischen Interessen eines Fürsten kämpfen, sondern aufgrund der Allgemeinen Wehrpflicht rekrutiert wurden und als Freiwillige zu den Fahnen eilten, für das Vaterland gestorben, für dessen Einheit, Fortbestand oder dessen Wiedergeburt. Dieser Sachverhalt verleiht den Kriegerdenkmälern, die jeden einzelnen Gefallenen auflisten, zunehmend auch ohne Hervorkehrung von Rangunterschieden, einen demokratischen Grundzug, selbst wenn sie in Monarchien oder Diktaturen errichtet wurden. Zugleich wird damit ein Grundelement der Sinndeutung manifest, das alle Kriegerdenkmäler verbindet. Es mögen weitere Bestimmungen hinzutreten - für eine bestimmte Staatsform und deren Werte, für eine bestimmte Ideologie gefallen zu sein -, aber dessen ungeachtet, und sogar ungeachtet der Unterschiede zwischen gewonnenen und verlorenen Kriegen, versuchen alle Kriegerdenkmäler den Tod der Gefallenen dadurch zu legitimieren, daß sie ihm Bedeutung für das Vaterland, die Nation, das Volk und deren Einheit und Leben in der Zukunft zuschreiben. Die christliche Jenseitshoffnung, die für den einzelnen Trost verspricht, wird damit für die Masse der Gefallenen zu einer politischen Zukunftshoffnung säkularisiert, die zugleich die Überlebenden einbindet in die opferbereite Gleichheit des Dienstes für das Vaterland.
Reinhart Koselleck, der sich schon seit langem mit Ikonographie und Funktion von Kriegerdenkmälern beschäftigt, hat in der Einleitung des vorliegenden Bandes die genannten Charakteristiken und weitere Grundzüge wie Grundprobleme des politischen Totenkults und der Kriegerdenkmäler in der Moderne zu einem ebenso konzisen wie differenzierten Resümee verknüpft. Er weist vor allem auf das grundsätzliche Paradox des politischen Totenkults hin, daß die Signatur der Totenmale international, ihre politische Sinnstiftung jedoch jeweils national gebrochen ist. Daraus folgt die methodische Forderung, jedes Denkmal nationalgeschichtlich und sozialhistorisch zu situieren, zugleich aber zu berücksichtigen, daß seine ästhetische Gestalt sich nicht zur Gänze auf situative Entstehungsbedingungen zurückführen läßt. Ikonographische Traditionen haben ihr Eigenleben. Kunst- und Sozialgeschichte müssen unterschieden werden und sind doch aufeinander zu beziehen.
Der vorliegende Sammelband versucht dieser Forderung in seinen vierzehn Beiträgern durch unterschiedliche thematische Akzentuierungen, Längsschnitte und Querschnitte, verschiedenartige Fragestellungen und methodische Zugriffe - je nach Disziplin der Autoren (Historiker, Soziologen, Kunsthistoriker) - gerecht zu werden. Entstanden ist ein breites Spektrum, das inhaltlich - die Zeiträume und Nationen betreffend - zwangsläufig nicht flächendeckend sein kann, aber in der exemplarischen Verarbeitung der Thematik wenig zu wünschen übrig läßt.
Das Schwergewicht des Bandes liegt auf Deutschland und Frankreich. Die Untersuchungen zu deutschen Kriegerdenkmälern werden ergänzt durch einen kunsthistorisch detaillierten Beitrag zum Kriegerdenkmal Österreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Betka Matsche-von Wicht) sowie einen knappen, aber äußerst aufschlußreichen Artikel über Gefallenendenkmäler und Totenkult in der Schweiz (Georg Kreis). Gerade weil die Schweiz seit einhundertfünfzig Jahren von Kriegen verschont blieb und dennoch Gefallenendenkmäler errichtete, zeigt sich an diesem Beispiel eine wichtige Funktion des Totenkults: gesellschaftlichen Werten durch den Tod höchste Weihe zu vermitteln. Außer den innereuropäischen Ländern sind jeweils zwei Beiträge in flankierender und kontrastierender Absicht der UdSSR und den USA gewidmet.
Der einführende Beitrag von Michael Jeismann und Rolf Westheider hat den Charakter eines ,Leitartikels'; er verfolgt den nationalen Totenkult in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution in Relation zum jeweiligen politischen Status des Bürgertums und dessen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses. In beiden Ländern ist der Totenkult bürgerlich, bestimmt durch diesseitige Sinnstiftung und formale Demokratisierung, und zeigt viele Gemeinsamkeiten. Den wichtigsten Unterschied zwischen beiden Ländern sehen die Autoren darin, daß die deutschen Denkmäler den Bürger als Soldaten feiern, die französischen hingegen im Soldaten den Bürger vergegenwärtigen. Dieser Unterschied wird nach dem Ersten Weltkrieg besonders deutlich, wobei der Sieg des einen und die Niederlage des anderen Landes schon bestehende Tendenzen des jeweiligen nationalen Totenkults lediglich verstärkten. Mit dem Zweiten Weltkrieg ergibt sich dann eine tiefgreifende Zäsur, vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich; der Gefallenen wurde nun meist nur noch auf zusätzlichen Tafeln an bereits bestehenden Denkmälern gedacht. Das Ende des alten Nationalismus und der herkömmlichen Bedeutung des Bürgertums fällt mit dem Ende des politischen Totenkults zusammen. Man hätte sich zu dieser interessanten Koinzidenz und zur Entwicklung nach 1945 noch einige weitere Ausführungen, vielleicht auch einen eigenen Beitrag gewünscht. Die wichtigsten Wegmarken der deutschen und französischen Entwicklung sind jedoch gesetzt, der Rahmen ist abgesteckt, innerhalb dessen das Thema durch die weiteren Beiträge zu den Kriegerdenkmälern in Deutschland und Frankreich aufgefächert wird.
Kai Kruse und Wolfgang Kruse zeigen unter sozialhistorischer Perspektive und am Beispiel der Stadt Bielefeld die Wandlungen des politischen Gefallenenkults innerhalb eines Gemeinwesens und seiner Bevölkerung. Manfred Hettling untersucht die Denkmäler, die nach 1848 für die bei der Niederschlagung der Revolution gefallenen Soldaten errichtet wurden. Die Analyse dieses konservativen Totenkults für die Sieger über die bürgerliche Revolution ergibt, daß auch er integrierend wirken, die Einheit der Nation unterstreichen sollte, was freilich nur partiell und unter Verdrängung von Geschichte gelingen konnte. Annette Maas zeigt in ihrer Untersuchung deutscher und französischer Kriegerdenkmäler auf den Schlachtfeldern um Metz von 1870/71, daß auf beiden Seiten Sieg wie Niederlage politisch funktionalisiert wurden und in den Denkmälern einen zukunftweisenden Sinn erhielten. Ein völlig anderes Kriegerdenkmal, das schließlich kein Kriegerdenkmal im engeren Sinn mehr war, und damit die Möglichkeit des Sinnwandels von Kunstwerken beschreibt J. A. Schmoll gen. Eisenwerth: eine Skulptur Rodins, die im ersten Entwurf als "Der Besiegte" erscheint, um sich dann, verändert und unter der neuen Bezeichnung "Das eherne Zeitalter", aus der Zone der Kriegerdenkmäler zur menschlichen Symbolgestalt zu erheben. In krassem Gegensatz zu solch humaner Symbolik steht der sakrale Monumentalismus des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, den Stefan-Ludwig Hoffmann als Ausdruck des neuen, selbstbewußten nationalen und völkischen Denkens des Bürgertums in der wilhelminischen Gesellschaft interpretiert. Volker Ackermann zeigt, wie im Kult um den Unbekannten Soldaten in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg der demokratische Grundzug und die einheitsstiftende Funktion des Kriegerdenkmals ihre höchste Ausprägung fand.
Ungeachtet des Streits darüber, ob der Unbekannte Soldat im Pantheon oder unter dem Triumphbogen beigesetzt wird und dementsprechend der symbolische Akzent eher auf der Republik oder auf Frankreich (als Nation) liegen sollte (der Ausgang des Streits ist bekannt), war die Bedeutung des Unbekannten Soldaten als metaphorische Klammer für den Zusammenhalt der Gesellschaft unstrittig. Im letzten Beitrag zu französischen Kriegerdenkmälern, denen zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, beschreibt Annette Becker die verschiedenen Denkmalsformen, die Frankreich überzogen und das ganze Land zu einem Ort des Kriegsgedenkens machten; sie ergänzt damit die einführenden Chakakterisierungen Jeismanns und Westheiders.
Die Beiträge über die Weltmächte UdSSR und USA erschließen ein neues Szenario. Die Untersuchungen von Frank Kämpfer über die sowjetischen Kriegerdenkmäler im allgemeinen und von Sabine Rosemarie Arnold über den besonderen Gedenkkomplex in Volgograd konzentrieren sich auf die Herausarbeitung der ideologischen und politisch-didaktischen Funktionen. Auch die sowjetischen Denkmäler sollten einheitsstiftend wirken, aber die Trauer, die in den innereuropäischen Kriegerdenkmälern fast immer zum Ausdruck kommt, selbst in den nach Siegen errichteten, wurde hier aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeblendet. Statt dessen findet sich als durchgängiger Charakterzug Heroisierung. Der Heldenkult sollte die integrative Wirkung des ,Großen Vaterländischen Krieges' in die Friedenszeit hinein verlängern und die Nachgeborenen zu vergleichbar opferbereitem Dienst für den Staat verpflichten.
Im Gegensatz zur UdSSR mit ihrem Primat des Staats und der den Staat tragenden Ideologie wird in den USA der Totenkult primär von der Gesellschaft getragen und ist durchlässig für privaten Umgang. Dies gilt selbst für die Denkmäler des amerikanischen Bürgerkriegs, die Michael Seidenhans vorstellt und die als Symbole einer gespaltenen Nation eine schwierige Rolle spielten, gleichwohl jedoch in die Gesellschaft integriert werden konnten. Besonders deutlich wird der gesellschaftliche Charakter des Totenkults, auch der Diskussion um die ,richtige' Form des Gedenkens und der private Umgang mit einem Gefallenendenkmal, an der Vietnam-Veteranen-Gedenkstätte in Washington. Mit ihr ist zugleich eine ganz neue Qualität des Kriegerdenkmals und eine neue Ikonographie geschaffen worden. Robin Wagner-Pacifici und Barry Schwartz analysieren im abschließenden Beitrag, der zu den brillantesten des Bandes gehört, die Vietnam-Gedenkstätte als Ausdruck des Problems, eines Krieges zu gedenken, der die Gesellschaft entzweite und zugleich verloren wurde. Maya Lins Tafeln mit den Namen der Gefallenen versuchten das Problem durch konsequente Individualisierung zu lösen; das Denkmal nimmt nicht auf den Krieg Bezug, sondern nur auf die Beteiligten. Die Diskussion um die Gedenkstätte und der private Umgang der Hinterbliebenen mit ihr unterstützt das Resümee der Autoren, daß die Bedeutung dieser Gedenkstätte in hohem Maß über ihre Verwendung interpretiert wird.
Mit dem Zweiten Weltkrieg hat das herkömmliche Kriegerdenkmal mit seiner Ikonographie ein zwangsläufiges Ende gefunden, auch wenn es in der Sowjetunion - martialisch übersteigert - und in anderen Ausnahmefällen noch überlebte. Denn dieser Krieg hinterließ nicht nur Millionen gefallener Soldaten, sondern auch Millionen gewaltsam getöteter Zivilisten, einschließlich Frauen und Kinder, und Millionen Opfer des Holocaust. Sinndeutungen, wie sie zuvor üblich waren, sind in sich zusammengefallen. Ob und wie der nicht mehr zu zählenden Toten gedacht werden kann, ob und wie Denkmäler der Trauer um jeden einzelnen Getöteten unter Verzicht auf überindividuelle Sinnstiftung Ausdruck verleihen können, ist eine offene Frage. Reinhart Koselleck reißt sie in seiner Einleitung an. Daß die Frage im vorliegenden Band keine Antwort findet, ist kein Einwand gegen dessen Verdienst; sie öffnet ein neues Kapitel von Überlegungen und Untersuchungen.
Ein Wort der Kritik an Äußerlichkeiten kann sich der Rezensent zum Schluß nicht versagen. Die ansprechende Gestaltung des Bandes mit seinen zahlreichen Abbildungen, die den Text hervorragend illustrieren, wird leider durch einige Nachlässigkeiten der Herstellung gemindert. Über einige Strecken gibt es ärgerliche Häufungen von Druckfehlern; im Autorenverzeichnis fehlen mehrere Beiträger; die Wiedergabequalität der Fotos ist nicht immer die beste.
Siegen, Klaus Vondung
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