Gerda Lederer/ Peter Schmidt (Hrsg.): Autoritarismus und Gesellschaft. Trendanalysen und vergleichende Jugenduntersuchungen 1945-1993. 424 S., Verlag Leske + Budrich, Opladen 1995.
In der wissenschaftlichen Debatte über den Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie, das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus und das Erstarken rechtsextremer und -populistischer Bewegungen wird immer wieder auf die Bedeutung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen hingewiesen. Ein weit verbreitetes autortäres Potential gefährde die Stabilität;t liberaldemokratischer politischer Systeme. In diesem Lichte stellen sich drei demokratietheoretisch äußerst relevante Fragen: 1) Wie verteilt sich das rechtsautoritäre Persönlichkeitsmerkmal in Deutschland. 2) Hat das rechtsautoritäre Potential nach 1945 zugenommen, abgenommen oder ist es stabil geblieben? 3) Inwiefern ähnelt die Verteilung und das Entwicklungsmuster in der Bundesrepublik Deutschland anderen Ländern? Die Beantwortung der Fragen ist u.a. notwendig, um Auskunft darüber geben zu können, ob die Verteilung des Autoritarismus auf Systemunterschiede zurückgeführt werden kann.
Im ersten Teil des ausgezeichneten Bandes analysieren die Autoren die Entwicklung des Autoritarismus in längsschnittlicher und international vergleichender Perspektive. Während die ersten beiden Beiträge von Gerda Lederer vor allem wissenschaftsgeschichtlicher Natur sind und die Genese der Theorie der autoritären Persönlichkeit und den Stand der theoretischen Diskussion hervorragend skizzieren, werden im dritten Beitrag die in den empirischen Studien benutzten Instrumente vorgestellt und Probleme der international vergleichenden Sozialforschung kompetent diskutiert. In vier Beiträgen beschäftigt sich der Band sodann mit der Verbreitung des Autonitarismus in Westdeutschland, den USA und österreich sowie in einer vergleichenden Studie in Westdeutschland, der DDR und Moskau. Dabei stützten sich die Autoren hauptsächlich auf vergleichend angelegte Jugendststudien zur Erfassung des autoritären Syndroms, die zu mehreren Zeitpunkten in der alten und neuen Bundesrepublik Deutschland, der DDR, österreich, den USA und in Moskau durchgeführt wurden. Was die Bundesrepublik betrifft, so zeigen die empirischen Studien in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Geschichte einen deutlichen Rückgang autoritärer Einstellungen.
Im zweiten Teil widmet sich der Band auf der Grundlage zahlreicher Jugend und- Erwachsenensurveys, sodann den Ursachen und Folgen von Autoritarismus. Untersucht werden zudem die Bedingungen von Ethnozentrismus, Pseudopatriotismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, die Sympathie für Republikane~ und die Akzeptanz des Golf-Krieges.
Die einzelnen Studien belegen, daß der Autoritarismus zur Erklärung unterschiedlicher politischer und sozialer Phänomene geeignet ist. So zeigen zum Beispiel Christian Seipel, Susanne Rippl und Peter Schmidt, daß die den Republikanern entgegengebrachte Sympathie hauptsächlich auf autoritäre Einstellungen zurückgeführt werden kann; und Andrea Hermann und Peter Schmidt belegen in einem theoretisch reflektierten und statistisch ansprechenden Beitrag den Einfluß von Autoritarismus auf Ethnozentrismus und Antisemitismus. Für die gegenwärtige Debatte über Fremdenfeindlichkeit dürfte ihr Befund wichtig sein, daß der Autoritarismus einen neun mal so starken Einfluß auf Ethnozentrismus hat wie Anomie. Dieses empirische Ergebnis steht im Gegensatz zu der herrschenden Ansicht, Orientierungslosigkeit stelle die Hauptursache für Ausländerfeindlichkeit dar.
Der Reader ist sowohl aus inhaltlichen als auch aus methodologischen Gründen sehr zu empfehlen. Aus methodologischer Perspektive ist er interessant, weil sich hier erstens einfache und komplexe statistische Analyse- verfahren abwechseln, zweitens ein typologisches Verfahren mit Strukturgleichungsmodelle kombiniert wird und drittens mit der Verwendung von Schwellenwertmodellen zur Erklärung von Gewalt ein bisher in der sozialwissenschaftlichen Forschung nur ungenügend berücksichtigtes, aber theoretisch angemessenes Verfahren angewandt wird. Allein die theoretische Durchdringung der Materie und die gute statistisch-technische Durchführung der einzelnen Beiträge macht die Lektüre des Buches lohnenswert. Inhaltlich ist der Band lesenswert, weil hier ein sehr spannendes Thema von Soziologen bearbeitet wird, von denen sich einige bereits einen guten Namen auf dem Gebiet gemacht haben. Hinzu kommt, daß; gut fundierte Ergebnisse präsentiert werden, die nicht unbedingt die in der öffentlichen Meinung weit verbreiteten Sichtweisen unterstützen. Dem Buch ist daher eine weite Verbreitung zu wünschen. Für Jugend- und Extremismusforscher sollte es zur Pflichtlektüre gehören.
Mainz, Jürgen R. Winkler
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