Johanna Meyer-Lenz: Schiffbaukunst und Werftarbeit in Hamburg 1833-1896. Arbeit und Gewerkschaftsorganisation im industrialisierten Schiffbau des 19. Jahrhunderts. 637 S., Peter Lang, Frankfurt am Main u.a. 1995.
Die deutsche Schiffbauindustrie ist heute ein Industriezweig, der weniger durch seine Leistungen als durch seine schon fast chronische Strukturkrise in der Öffentlichkeit von sich reden macht. Diese Krise hat, wie die von Johanna Meyer-Lenz vorgelegte Dissertation noch einmal deutlich vor Augen führt, durchaus historische Ursachen. So war die Schiffbauindustrie mit ihren traditionellen Schwerpunkten an Nord- und Ostsee am Ende des 19. und zu Eeginn des 20. Jahrhunderts zwar einerseits ein innovativer, leistungsfähiger und stark expandierender Sektor der deutschen Volkswirtschaft; die konjunkturellen Schwankungen des Welt marktes trafen diese Branche andererseits oft stärker als andere Industriezweige. Die Anfälligkeit für den - freilich nicht weiter ausgeführten - machtpolitischen Mißbrauch und der Vereinnahmung für "Destruktion und Krieg" (S. 23), die schließlich sogar die Demontage der Werften zur Folge hatte, kann mit der Autorin ebenfalls als ein weiteres Indiz für die außercrdentliche Sensibilität und Krisenanfälligkeit der Werftindustrie angeführt werden.
Die sich hierin spiegelnde Ambivalenz des "Fortschritts" bildet freilich nur den Rahmen einer Darstellung, deren Hauptgegenstand das "soziale Milieu" der Hamburger Schiffbauarbeiterschaft im 19. Jahrhundert ist, das durch den Wandel in der Produktionstechnik in vielerlei Hinsicht geprägt worden ist. Mit diesem Ansatz, der "traditionelle" sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen mit alltags- und kulturgeschichtlichen Aspekten verbindet, knüpft die Autorin an den neuen Trend der Arbeitergeschichtsforschung an. Diese versteht die Arbeiterklasse, ihre Organisationen und ihre Kulturen nicht mehr als ein relativ homogenes Gebilde, sondern ist bemüht, die Vielschichtigkeit und die gleichzeitige Überlagerung verschiedener Milieus und Lebenslagen sowie insbesondere die spezifische Rolle der Handwerker in der sich formierenden Arbeiterbewegung herauszuarbeiten. Folgerichtig begreift die Autorin "Gewerkschaft" auch nicht einfach als eine Organisation der Arbeiterbewegung, sondern "als gruppenbindende Einheit im gesellschaftlichen Raum", die "als Scharnier die Bereiche von Produktion, Arbeit, Berufssozialisation und Milieu mit-einander verknüpft" (S. 26).
Um das "soziale Milieu" angemessen analysieren zu können, untersucht die Verfasserin auf der Basis vieler bisher unbekannter Quellen und mit großer Liebe zum Detail in fünf Großabschnitten die konstitutiven Elemente der Entwicklung der Hamburger Werftindustrie, die Strukturen von Angebot und Nachfrage im Hamburger Seeschiffbau, das Verhältnis von Werftindustrie und Arbeiterschaft, die Gewerkschaftsbewegung der Hamburger Werft- und Metallarbeiter sowie die Krisen und Konflikte zwischen den Werft- und Metallarbeiterorganisationen.
Besonders hervorzuheben an dieser außerordentlich materialreichen Studie, die sich durchweg auf einem hohen Niveau bewegt, die Beschreibung der Formierung, der sozialen Lage und der inneren Zusammensetzung der Werftarbeiter- schaft und deren differenzierter struktureller Veränderung im Laufe der Industrialisierung des Schiffbaus sowie des keineswegs gradlinig verlaufenen Prozesses der gewerkschaftlichen Organisationsentwicklung. Dadurch gelingt es ihr in vorbildlicher Weise, einen facettenreichen Beitrag zur Geschichte des Zusammenhangs von Handwerkerkultur und Arbeiterbewegung zu leisten.
Heidelberg, Michael Epkenhans
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