Hanspeter Oschwald: Einer gegen die Mafia. Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo. 191 S., Herder, Freiburg u.a. 1997 (Herder/Spektrum, 4598).
Hanspeter Oschwald, Auslandschef beim konservativen SPIEGEL-Konkurrenten FOCUS, hat nach einer Biographie über den vielfachen Minister und vierfachen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti (1996) nun eine weitere Politiker-Biographie vorgelegt, gleichsam als Pendant zu dem als "Garanten der Mafia" verdächtigten und wegen mutmaßlicher Mafia-Verbindungen derzeit vor Gericht stehenden Andreotti: die Biographie "Einer gegen die Mafia" setzt sich sehr fundiert und anschaulich mit dem ersten antimafiosen Bürgermeister von Palermo und Gründer der Anti-Mafia-Partei "La Rete" (Das Netz), Leoluca Orlando, auseinander. Orlando im übrigen hält Andreotti "politisch und moralisch für die Mafia-Verbrechen verantwortlich" (S.33).
Oschwalds Biographie, die gleichzeitig einen guten Einblick in die italienische Politik-Landschaft der vergangenen beiden Jahrzehnte darstellt, ist die zweite deutschsprachige Monographie über den populären Bürgermeister. Die 1994 im Bastei-Lübbe Verlag erschienene Orlando-Biographie von Monika Lustig ist (wohl verlagsbedingt) populistischer und subjektiver geschrieben, außerdem inhaltlich nicht vorwiegend an Politik orientiert wie diejenige Oschwalds, sondern beschäftigt sich mehr mit dem "Menschen" Orlando (so begleitet ihn die Autorin bei seiner täglichen Arbeit, z.B. zu der Einweihung eines Kindergartens u.ä.). Gleichzeitig ist M. Lustigs Buch vielschichtiger und grundsätzlich eher als Einstieg in das Thema geeignet. Oschwalds Biographie hingegen ist als Ergänzung insbesondere für eine genauere Betrachtung der politischen Intrigenspiele und Schwierigkeiten hin bis zum Wechsel von der ersten zur zweiten Republik unverzichtbar. Interesseweckender für ein größeres Lesepublikum ist bei Lustig sicherlich der Fototeil; einen tabellarischen Lebenslauf oder besser eine Chronologie der Ereignisse hätte man sich indes auch bei Oschwald gewünscht. Den wissenschaftlich arbeitenden Leser stören hier bisweilen manche zeitlichen Sprünge, mitunter auch fehlen exakte Zeitangaben sowie Zitatnachweise. Der reportagehafte Stil läßt nicht erkennen, ob die zitierten Aussagen Orlandos aus bereits veröffentlichten Presseberichten stammen oder ob Oschwald selbst den Politiker interviewt hat. Das für den Buchmarkt stets lukrative Mafia-Thema will offenkundig den nicht-akademischen Leser nicht durch zuviel Zahlenmaterial und einen wissenschaftlichen Apparat verschrecken (bei Alexander Stilles Biographie der beiden Anti-Mafia-Richter Falcone und Borsellino ("Die Richter", München: Beck 1997) hat sich der Verlag erfreulicherweise nicht davon zurückhalten lassen und bietet im Anhang weiterführende Literatur angaben, Fußnoten und ein Kreuzregister).
Lückenhaft präsentiert sich die Vita Orlandos bei Oschwald für die Zeit von 1980 bis 1985. Wie kam es dazu, daß der politische Quereinsteiger und Juraprofessor Orlando, der 1980 innerhalb seiner Partei noch nicht genügend Befürworter zum Anführen der DC-Liste fand, 1985 plötzlich doch aufgestellt wurde und nach seinem Wahlsieg tatsächlich Bürgermeister wurde?
Zu kritisieren sind auch einige inhaltliche Unstimmig- und Flüchtigkeiten, so die Beschreibung einer Bahnreise von Bologna nach Palermo: "Gegen Mitternacht traf er in Messina ein, um mit der Fahre nach Sizilien überzusetzen." (S. 25) Messina liegt allerdings bereits auf Sizilien. Bei dem zur Mafia-Bekämpfung nach Sizilien abgeordneten Carabinieri-General und ehemaligen Terroristenbekätupfer Dalla Chiesa ist noch ein zweiter Vorname zu ergänzen: Carlo Alberto Dalla Chiesa (S.42). Die Kinderärztin und DC-Bürgermeisterin von Palernio heißt Elda und nicht Ilda Pucci (S.43). Der von der Mafia im Jahre 1983 ermordete Rocco Chinnici war kein "Kriminalpolizist" (~.56), sondern Leiter der Ermittlungsbehörde von Palermo. Er gilt als Initiator des Anti-Mafia-Pools und war somit Vorgesetzter der international bekanntgewordenen Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Der sozialistische Justizminister schreibt sich Giuliano Vassalli und nicht Vassahi (S. 86). Für wenig wahrscheinlich ist es zu erachten, daß es tatsächlich einen Kausalzusammenhang zwischen der Eröffnung des Maxi-Prozesses und der Ermordung des 11jahrigen Claudio Domino gibt, wie Oschwald auf S.60 unterstellt. Der Mord war wohl nicht als mafiose Einschüchterung der Justizbehörden inszeniert, sondern ist eher im Zusammenhang mit dem Vater des Jungen zu sehen, der mit seiner Reinigungsfirma im Gerichtsbunker auf dem Gelände des palermitanischen Gefängnisses Ucciardone arbeitete und möglicherweise die Kooperation mit der Mafia (z.B. Kassiber- und Drogenbeförderung) verweigerte.
Das Kapitel 8 trüge besser die Überschrift (S. 61): Der Dichter und die Anti-Mafia-Karrieristen. In seinem streitbaren Artikel über "I professionisti dell´ antimafia" hatte Leonardo Sciascia schließlich nicht diejenigen kritisiert, die durch die Mafia Karriere machen (obwohl dies sicher ein lohnenderes Thema wäre), sondern Anti-Mafia-Kämpfer wie Leoluca Orlando und Paolo Borsellino, die angeblich beruflich aufgestiegen waren, weil sie in ihren Funktionen als Bürgermeister und Untersuchungsrichter den Kampf gegen die Mafia zu ihrer Hauptaufgabe gemacht hatten.
Bei den Ausführungen über den Kardinal von Palermo, Salvatore Pappalardo (z.B. S .91), sollte noch ergänzt werden, daß der erste kirchliche Kritiker der Mafia sich später vom Anti-Mafia-Engagement deutlich abwandte. Pappalardo, der 1982 anläßlich der Ermordung Dalla Chiesas offen zum Kampf gegen die Kräfte des Bösen aufgefordert hatte und Rom der Untätigkeit bezichtigt hatte, machte spätestens 1986 einen unübersehbaren Rückzieher und betonte: "Die Mafia kostet weniger Menschenleben als die Abtreibung." Br. bestritt, gesagt zu haben, Mafiamitglieder müßten automatisch exkonirnuniziert werden. In einem Artikel der palermitanischen Tageszeitung Giornale dl Sicilia kritisierte er indirekt den Maxi-Prozeß: "Es ist viel besser, etwas Gutes aufzubauen als das Böse anzuprangern.
Eher marginal, aber dennoch erwahnenswert, ist das grundsätzliche Übersetzungsproblem, das sich widerspiegelt in dem Ausdruck "Jesus-Platz" als Variante für "Piazza del Gesù '", Synonym für die Christdemokraten, deren Sitz sich dort befindet (S.99). Ahnlich seltsam wirkt "Tagesschau" als Ersatz für "Telegiornale" (S. 87). Die 1996 verstorbene Journalistin Franca Magnani, deren Italien-Berichte für deutsche Zeitungen und Sender kürzlich in Auswahl erschienen sind ("Mein Italien", hrsg. von Sabina Magani-von Petersdorff und Marco Magnani, Köln: Kiepenheuer & Witseh 1997), löste das Problem m.E. glücklicher und gleichzeitig mit einem didaktischen Impetus, indem sie nämlich das italienische Wort erklärte, in deutscher Sprache paraphrasierte, evtl. einem deutschen vergleichbaren Phänomen gegenüberstellte, aber fortan ausschließlich den italienischen Fachausdruck verwendete.
Bei Oschwald treffen wir auf dieses philologische Problem vor allem bei der Bezeichnung des ausführenden Teils des Stadtrats (Consiglio Comunale). Aus dem italienischen giunta (Ausschuß, Kommission, Komitee) für das Exekutiv- oder Verwaltungsorgan des Consiglio Comunale (im Deutschen am ehesten mit Kommunalregierung oder Stadtverwaltung zu übersetzen) leitet Oschwald Junta ab. Dieser im Deutschen geläufige ibero-romanische Ausdruck, der zwar selten auch für Verwaltungsbehörden autonomer Regionen und Staatsorgane auf der iberischen Halbinsel und in Lateinatnerika verwendet wird, hat indes in neuerer Zeit einen entscheidenden Bedeutungswandel erfahren: Mit Junta assoziiert man eine pejorative Bezeichnung für Militärregierung und Militärdiktatur in Lateinamerika. Mit einem solchen Ausdruck, der einen negativen militaristischen Akzent in sich trägt, wird Oschwald somit dem demokratisch gewählten Magistratsausschuß von Palermo in keiner Weise gerecht.
Bedenken müssen angemeldet werden, wenn "La Rete" von Oschwald folgendermaßen charakterisiert wird: "Die Bewegung gab sich einerseits als Partei mit eigenen Wahllisten und Kandidaten. Andererseits verstand sie sich als militante Kraft, die in alle anderen politischen Gruppen hineinwirken wollte" (S. 119). Im Fremdwörterduden wird "militant" definiert als: "mit kriegerischen Mitteln für eine Überzeugung kämpfend; streitbar". Streitbar ist Orlando sicherlich, aber seine Bewegung, die sich - auch wenn dies freilich allzu schöne Schlagworte sind - für direkte Demokratie, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Verantwortungsbereitschaft, friedliches Miteinander, Solidarität, Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzt, kann sicherlich dennoch nicht mit "militant" beschrieben werden, was allzusehr an den militanten Arm der Sinn Fein und ahnliche Gruppierungen erinnert.
Erfreulich ist, daß Oschwald auch immer Interessantes am Rande bietet, etwa daß die Mitgliedschaft in Parteien in Italien jeweils nur für ein Jahr erklärt wird und dann erneuert werden muß - "Die Einschreibzeit ist für die Parteien so etwas wie eine innere Abstimmung und für die Geschäftsführer das große Zittern. Wer mit dem Kurs nicht zufrieden ist, verzichtet auf die Verlängerung seines Parteibuchs (..)." (S.117) - und auch willens ist, selbstkritisch einmal den Sprachgebrauch der eigenen Journalistenzunfi zu beleuchten. Ein Ärgernis nämlich für jeden, der sich mit Methoden der Mafia und den gesellschaftlichen Prämissen und Auswirkungen beschäftigt, ist tatsächlich der inflationäre Gebrauch des Wortes "Mafia", wie Oschwald treffend formuliert: "Wenn irgendwo eine straff organisierte Kriminalität auftaucht, wird sie sofort als Mafia gebrandmarkt. Die Zigaretten-Mafia, die Russen-Mafia, die Vietnamesen-Mafia. Die Bezeichnungen führen völlig in die Irre. Mafia ist organisierte Kriminalität, aber nicht nur. Sie ist Teil der Gesellschaft. Organisierte Kriminalität, die kein bürgerliches, "ehrenwertes" Gesicht zeigt, ist keine Mafia. Der Mafioso fühlt sich selbst als ein Glied der Gesellschaft, das sich genauso bereichern dürfe wie der Staat, so die abstruse Rechtfertigungs-Philosophie." (S. 32)
Eine völlig unakzeptable Verzerrung der Tatsachen und Beleidigung Orlandos stellt Oschwalds Behauptung "Folgt man der klassischen Definition des Mafioso, so trägt selbst Orlando als typischer Sizilianer unweigerlich mafiose Züge" dar, die sich auf die Mafia-Typisierung des palermitanischen Arztes und Volkskundlers Ginseppe Pitrè (1841-1916) von 1889 stützt ("Die Mafia ist das Bewußtsein des eigenen Seins, die übertriebene Vorstellung von der Macht des Individuums (...)" (S. 149). Pitrès Abhandlung über "La mafia e l'omertà " aus seinem 25bändigen Werk zur sizilianischen Volkskunde ist landsmannschaftlich gefärbt und definiert Mafia noch nicht als kriminelle Organisation, sondern als Mentalität mit überwiegend positiven Charakteristika (Mut, Selbstbewußtsein, Standesbewußtsein, Respekt (dem, dem er gebührt), gegenseitiger Beistand. Durchsetzungskraft und Männlichkeit). Außerdem erscheint der Mafioso als Schiedsmann, als Friedensrichter. Das Adjektiv mafioso hatte im palermitanischen Dialekt bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Konnotation "Schönheit, Grazie, Vollkommenheit, Vortrefflichkeit". So wurde ein hübsches, selbstbewußtes Mädchen mafiusa oder mafiusedda genannt, ein ordentliches, aufgeräumtes, sauberes Häuschen von Leuten aus dem Volk hieß una casa mafiusedda, ammafiata. Der Essay Pitrès deutet aber bereits auch schon die weitere Entwicklung an: Ab 1860 hat sich die Bedeutung des Wortes mafioso gewandelt. Pitrè verweist insbesondere auf seine Ausbreitung dank des immensen Erfolges der Dialektkomödie 1 Mafiusi di la Vicariaa (Erstaufführung 1863) von Giuseppe Rizzotto und Gaspare Mosca, in der es um präpotente Insassen des palermitanischen Gefängnisses Vicaria geht, die als mafiusi bezeichnet werden. - Der ursprünglich doppelt besetzte Begriff (mafioso = schön/elegant und selbstbewußt/ fähig / tauglich) hatte demnach zunächst eine Begriffsverengung erfahren auf die zweite Komponente, anschließend war eine weitere Eigenschaft von "selbstbewußten" Männern hinzugekommen: deren Gewaltbereitschaft. Es läßt sich sogar die These aufstellen, daß Pitre' mit seinem Essay bewußt einer ihm gerade für das sizilianische Volk - dessen Kultur er doch so schätzte und der er sich selbstredend auch selber zurechnete - diffamatorisch erscheinenden Entwicklung des allgemein-italienischen Bewußtseins gegensteuern wollte, indem er die ehemals positiv besetzten Begriffe extrem hervorhebt, um darauf seine apologetischen Modifizierungen aufzubauen, die im übrigen von gebildeten Landsleuten begeistert rezipiert wurden (z.B. von Luigi Capuana), wohl, um ein negatives Image von ihrem Volk und von ihrer Insel abzuwenden. Kurz: Pitrès Definition des Mafioso war schon für das Ende des 19. Jahrhunderts nur bedingt akzeptabel. Oschwald null streift die Grenze der Geschmacklosigkeit, wenn er Orlando sein durchaus legitimes und notwendiges Machtbewußtsein zum Vorwurf macht und ihn mit Pitrè anachronistischen und taktierenden Parametern zum latenten Mafioso stempelt.
Insgesamt bietet Oschwalds Biographie weniger eine Abhandlung zur Geschichte der Mafia und Antimafia als vielmehr einen Insider-Bericht eines politischen Journalisten über die Welt des italienischen Parteienhaders und die besondere Position der Symbolfigur der Anti-Mafia-Politik, die nach eigener Aussage zwei Drittel ihrer Arbeit allein darauf verwendet, Intrigen abzuwehren (S. 62). Gerade unter diesem Gesichtspunkt bleibt unverständlich, warum auch Oschwald teilweise auf den Zug jener Kritiker aufspringt, die Orlando als Rhetoriker und Populisten angreifen. Je heikler das Thema, je schwieriger die Gegner, desto wichtiger ist der Rückhalt eines solchen Politikers in der Bevölkerung, desto dringender ist die Mobilisierung der Massenmedien zur Bewußtseinsweckung, desto größer muß die eigene Energie sein, die es ermöglicht, sich über die tagtägliche Todesgefahr hinwegzusetzen. Auf die Internationalisierung des Phänomens Mafia antwortet Orlando, inzwischen auch Abgeordneter des Straßburger Parlamentes, mit einer europaweiten Öffentlichkeitsarbeit. Wie sollte ein rhetorisch blasser, unemotionaler, womöglich unnahbarer Mensch eine solche Aufgabe bewältigen?
Berlin, Ulrike Hollender
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