Andreas Osiander: The States System of Europe, 1640-1990. Peacemaking and the Conditions of International Stability. 358 S., Clarendon Press, Oxford 1994.

 

In seinem Buch "Social Theory and Social Structure" umschrieb der große amerikanische Soziologe Robert K. Merton den Prozeß der Entstehung von Wissen als eine Gratwanderung zwischen Belesenheit und Ignoranz. Wer allzusehr auf das rekurriert, was andere zuvor geschrieben haben, wird dem akkumumlierten Wissen einer Disziplin nur wenig Neues hinzufügen können, dafür aber in Regel auf sicherem Grund stehen. Wer demgegenüber kaum zur Kenntnis nimmt, was andere zuvor gesagt haben, wird vielleicht völlig neue Wege entdecken, die verborgen geblieben wären, wenn die vorgezeichneten Pfade beschritten worden wären. Wahrscheinlicher aber ist, daß er (oder sie) Gefahr läuft, nach einem beschwerlichen Marsch durch unwegsames Gelände doch nur dort anzugelangen, wo andere zuvor schon waren -- und bereits Wege für die Nachfolgenden angelegt hatten. Im schlimmsten Fall gar, könnte sich die Suche nach neuen Wegen als ein Unternehmen erweisen, das am Ende den Weg zurück aus der Sackgasse erzwingt.

Die hier anzuzeigende Arbeit, eine an der University of Oxford abgeschlossene Dissertation, erinnert deshalb an Merton, weil sowohl die Belesenheit des Autors als auch seine Ignoranz in auffälliger Weise ins Auge stechen. Auf den ersten Blick erscheint diese Arbeit zwar durchaus den gängigen Konventionen zu entsprechen: der Titel suggeriert, daß die Bedingungsfaktoren internationaler Stabilität erforscht werden sollen, die Gliederung, daß die Frage anhand von vier Fallstudien zum Westfälischen Frieden, dem Utrechter Frieden, dem Wiener Kongress und dem Frieden von Versailles beantwortet werden wird. Schon die Lektüre des mit fünfzehn Seiten "äußerst knapp geratenen Einleitungskapitels läßt allerdings vermuten, daß es sich um eine recht unkonventionelle Arbeit handelt. Im Kern, so faßt der Autor seine zentrale Aussage zusammen, führe er den Nachweis, "daß die internationalen Aktivitäten im europäischen Staatensystem im Blick auf den Untersuchungszeitraum in plausiblerer Weise erklärt werden können als dies bislang geschehen ist, wenn man sie anstelle der (zumeist anachronistischen) Annahmen von Historikern und Politikwissenschaftlern mit Hilfe jener Annahmen erklärt, mit denen die Entscheidungsträger selbst arbeiteten" (S. 1). Eine solche Ankündigung läßt aufhorchen, verbergen sich doch hinter den nicht genau benannten Politikwissenschaftlern zahlreiche große Namen der US-amerikanischen Politikwissenschaft, so z.B. Karl Deutsch, Morton Kaplan, Richard Rosecrance, J. David Singer und Kenneth Waltz. Seit den 1960er Jahren haben sie an prominenter Stelle über die Bedingungsfaktoren internationaler Stabilität gestritten. Keiner dieser Autoren taucht jedoch im theoretischen Kapitel dieser Arbeit (oder zu einem späteren Zeitpunkt) auf. Dies überrascht vor allem deshalb, weil sich eine direkte Auseinandersetzung mit ihren Thesen angesichts des Erkenntnisinteresses Osianders geradezu aufgedrängt hätte. Beispielsweise behauptet er, daß in einem System, das aus einer größeren Anzahl von Akteuren besteht und daher vergleichsweise unübersichtlich ist, Stabilität nur dann gewährleistet ist, wenn sich die Mehrheit an einen allseits akzeptierten Verhaltenskodex hält (S. 7). Diese Aussage steht u.a. in ganz offensichtlichem Gegensatz zu Thesen, die Waltz, Deutsch, Singer und Rosecrance vertreten. Ihnen zufolge entscheidet weniger die Anerkennung (oder Nicht-Anerkennung) bestimmter Spielregeln, sondern die Machtverteilung darüber, wie stabil ein internationales System ist. Machtverteilung taucht jedoch bei Osiander als Erklärungsfaktor an keiner Stelle auf. Nun könnte man dem Autor zugute halten, daß er ja bereits durch die Zusammenfassung seiner zentralen Aussage angedeutet hat, daß er die plausibelste Erklärung für internationale Stabilität nicht in objektiven Machtkonstellationen, sondern in der (von der Akzeptanz der Akteure abhängigen) Gültigkeit von bestimmten Verhaltenskodices sieht und ihm deshalb dieser Teil der traditionellen IB-Debatten wenig ertragreich erschien. Doch selbst wenn man ihm dies zugesteht -- und dies wäre ein großes Zugeständnis, denn für eine wissenschaftliche Arbeit bleibt es eine wesentliches Versäumnis, sich nicht direkt mit alternativen Theorien oder Erklärungen auseinanderzusetzen, solange nicht überzeugend nachgewiesen ist, daß diese nichts taugen -- verbleiben Zweifel an der Vorgehensweise des Autors, weil selbst von der unmittelbar relevanten Literatur nur ein Bruchteil zur Kenntnis genommen wird. Osiander identizifiert zwar das herausragende (und einschlägige) Werk von Hedley Bull als prägend für seine eigene Arbeit, aber neben eher beiläufigen Verweisen auf zwei Arbeiten von Raymond Cohen und Kalevi Holsti hält er die "vorhandene Literatur" für ziemlich defizitär (S. 11): kein weiteres Wort über die umfangreiche, vor allem seit Anfang der 1980er Jahre stetig zunehmende Literatur über die Bedeutung von Normen und Institutionen für die Vermeidung von Konflikten; keine Bezugnahme auf die einschlägigen Stränge der postmodern IB-Debatte, die die Rolle von Ideen hervorheben; und noch nicht einmal weitere Verweise auf die von Bull zwar wesentlich geprägte, ab den 1980er Jahren aber über ihn hinausgehende "english school". Daß die von Osiander verwandte Terminologie und Vorgehensweise vor diesem Hintergrund sehr unkonventionell (und zum Teil auch schwer verst"ndlich) geraten ist, überrascht nicht mehr. Nur wer sich ganz auf seine Begrifflichkeiten einläßt und die beträchtlichen Interpretationsspielräume auslotet, kann vielleicht eine Vorstellung davon gewinnen, warum der Autor in dem, was er "consensus agenda" nennt ("certain common assumptions", die von den Akteuren eines internationalen Systems akzeptiert werden, vgl. S. 9) die wichtigste Ursache für den Erhalt bzw. den Verlust internationaler Stabilität sieht. Doch selbst wenn man sich bemüht, Osianders unkonventionelle Vorgehensweise zu verstehen, bleiben Fragen offen, denn die definierenden Begriffe sind häufig genauso definitionsbedürftig wie das Definierte selbst. Mehr noch: hinter seinen Konzepten scheinen sich allumfassende Quasi-Theorien zu verstecken. Nur um ein Beispiel zu nennen: Osianders Konzeptualisierung zufolge wird die "consensus agenda" vor allem durch "consensus principles" geprägt; dies sind "(principles) concerned with the structure of the international system" (S. 9); drei "Aspekte" machen diese "Struktur" aus: "the number and identity of the international actors, their relative status vis-à-vis-…- one another, and the distribution of territories and populations between them" (S. 3, Herv. im Original); was sich allerdings hinter "identity" und "relative status" verbirgt, wird nicht weiter erläutert. Trotzdem scheint durch diese Definitionen so etwas wie eine Theorie hindurch, die ungefähr so lautet: Das Ausmaß des sich unter den Akteuren herausbildenden Konsenses über die Gültigkeit eines bestimmten Verhaltenskodex entscheidet über die Stabilität eines Systems. Verbirgt sich aber dahinter nicht eine Tautologie? Führt Konsens zu Stabilität oder ist Konsens nicht nur ein anderer Begriff für Stabilität? Fällt die Einleitung vor allem dadurch auf, daß andere wissenschaftliche Arbeiten

zum Thema kaum zur Kenntnis ge- und schon gar nicht Anregungen anderer Autorinnen und Autoren übernommen werden, so beeindruckt der empirische Hauptteil, der ungefähr 90 Prozent der Arbeit insgesamt ausmacht, durch die für eine politikwissenschaftliche Arbeit ungewöhnlich intensive Quellenarbeit. Sie allein entscheidet jedoch nicht (und noch in einmal erster Linie) über die Qualität einer politikwissenschaftlichen Arbeit. Die Diskussion alternativer Erklärungen gehören gerade bei der gewählten Fragestellung wesentlich dazu. Auch davon findet sich jedoch in dieser Arbeit sehr wenig. Der Autor gibt zwar mehrere überzeugende Beispiele seiner Geschichtskenntnis, indem er detailliert bestimmte Thesen in der Sekundärliteratur widerlegt (u.a. in einem eigenen Anhang eine Interpretation Henry Kissingers zum Wiener Kongress). Ungeklärt bleibt allerdings die methodische Frage, inwieweit uns die detaillierten Einzelerklärungen von vier großen Friedenskonferenzen (deren Auswahl nicht näher begründet wird) in die Lage versetzen, allgemeine Aussagen zu den Bedingungsfaktoren internationaler Stabilität zu formulieren.

Osiander hat sich in seiner Arbeit dafür entschieden, das Risiko eines eigenen Weges einzugehen. Das ist grundsätzlich positiv zu vermerken. Warum er seinen Weg jedoch durch völlig unwegsames Gelände geschlagen und die Wegmarken anderer nahezu vollständig ignoriert hat, bleibt unbegreiflich und hat sich auch nicht ausgezahlt.

 

Darmstadt, Gunther Hellmann

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