Susan Pedersen: Family, Dependence, and the Origins of the Welfare State. Britain and France, 1914-1945. 478 S., Cambridge University Press, Cambridge 1993.
Unter den zahlreichen Neuerscheinungen zur vergleichenden Geschichte der Sozialpolitik nimmt die methodisch höchst innovative Darstellung Susan Pedersens einen prominenten Platz ein. Die Autorin rekonstruiert die Genese der Sozialpolitik in Frankreich und Großbritannien nicht nur im Kräftefeld widersprüchlicher und konkurrierender Klasseninteressen. Bei den sozialpolitischen Auseinandersetzungen ging es nicht allein um Verteilungskonflikte, die sich in die Polarität von Kapital und Arbeit einordnen ließen. Pedersens sehr gut herausgearbeitete Kernthese ist vielmehr, daß bei diesen Debatten Fragen des Verhältnisses der Geschlechter wie der Ordnung der Familie einen zentralen Platz einnahmen und daß damit in beiden Ländern zugleich fundamentale Weichenstellungen in der Sozialpolitik verbunden waren, die bis heute nachwirken.
Die Arbeit ist ein Musterbeispiel eines Ländervergleichs, der allein derartige Generalisierungen ermöglicht. Frankreich und Großbritannien bieten sich zum Vergleich deshalb an, weil die Unterschiede zwischen beiden Ländern besonders markant sind: Frankreich war hinsichtlich des Aufpaus sozialer Programme im Vergleich zu Großbritannien nicht nur ein ausgesprochener "Spätentwickler"; die einzelnen französischen Industriezweige stellten ursprünglich selbst auch sehr weitgehend soziale Leistungen bereit. Ein bis heute auffallendes Kennzeichen der französischen Entwicklung ist zudem die starke Betonung von Unterstützungen und Leistungen für die Familie, für die 1960 im Gegensatz zu 0,6% in Großbritannien und 0,3 % in der Bundesrepublik 3,8 % des Bruttosozialprodukts ausgegeben wurden (S.4I5); 1949 waren es noch 40% der sozialen Gesamtausgaben. Wie die Autorin argumentiert, verbergen sich hinter diesen Zahlen für die verschiedenen Länder radikal unterschiedliche sozialpolitische Konzeptionen: Englands Sozialpolitik formiert sich entlang "deeply gendered lines" (5.12). Es handelt sich um ein auf den männlichen Versorger zugeschnittenes soziales Sicherungssystem, in dem redistributive Elemente zugunsten von Frauen und Kindern nicht sehr ausgeprägt waren. Wie sie ironisch formuliert: "Single women were treated as single men, but married women were insured not primarily against loss of wages but rather against loss of men" (S. 354) Demgegenüber sind im französischen System soziale Rechte nicht so sehr an das einzelne Individuum, sondern an die Familie gebunden Sie spricht denn auch von "parental policies", bei der Einkommen "primarily across family types and not along gender types" umverteilt wird (S.17).
Der Autorin geht es aber nicht um eine Strukturanalyse. Dank ihres historisch-genetischen Ansatzes, der auf einer breiten Aufarbeitung zeitgenössischer Quellen beruht, gelingt es ihr, die verschiedenen Zäsuren, Koalitionen und Interessen sowie die komplizierte und mitunter recht widersprüchliche Umsetzung von Programmen in Politik herauszuarbeiten. Wie sie zeigt, gab es in beiden Ländern schon vor, zumal aber in der Folge des Ersten Weltkrieges, Forderungen die Familienunterstützung auszubauen In England verfochten Sozialisten und Feministen diese redistributive Agenda, während in Frankreich die politische Rechte und Katholiken unter ausgeprägt pronatalistischen Vorzeichen die öffentliche Debatte beherrschten. Dank der sozialen und politischen Affinitäten dieser Gruppen mit der wirtschaftlichen Elite blieb es in Frankreich nicht nur bei Worten; denn die familienzentrierte Sozialpolitik war auch ein Mittel der Unternehmerverbände, den Lohndruck abzublocken und eine stärkere Kontrolle über die Arbeiter auszuüben. Zu vergleichbaren Koalitionen kam es in England nicht, so daß hier die Propagandisten einer neuen Sozialpolitik isoliert blieben, zumal sie sich selbst in den Gewerkschaften mit ihren Forderungen nicht durchsetzen konnten. Ein Fülle von Einzelfragen angefangen von der Position der Gewerkschaften im politischen Entscheidungsprozeß im England der Zwischenkriegszeit bis zur Neubewertung der Unternehmerverbände werden von Pedersen angeschnitten, die allesamt den Spezialisten interessieren werden Von allgemeinerem Interesse sind die reflektierten Fragen nach dem Verhältnis von wirtschaftlichen Interessen, Geschlecht, Kultur und Klasse, die hier mustergültig in eine sozialwissenschaftliche Analyse eingebettet sind Es ist daher zu hoffen, daß dieses innovative Buch in Deutschland nicht "übersehen" wird.
Washington, Martin H. Geyer
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