Ralf Sänger: Portugals langer Weg nach Europa. Die Entwicklung von einem autoritär-korporativen Regime zu einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. 683 S., Peter Lang, Frankfurt am Main u.a. 1994 (Europäische Hochschulschriften Reihe XXXI Politikwissenschaften Bd. 256).
Maria dos Santos Lopes, Ulrich Knefelkamp, Peter Hanenberg (Hrsg.): Portugal und Deutschland auf dem Weg nach Europa. 262 S., Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1995 (Weltbild und Kulturbegegnung Bd. 5).
Portugal findet in Deutschland kaum Beachtung, und selbst die friedliche Revolution vom 25. April 1974 erregte nur kurzzeitig Aufmerksamkeit. Historiker und Politologen vernachlässigen gleichermaßen das westlichste Land Europas, das selbst in den meisten vergleichenden Studien zu den Ländern der EuropäiscbenUnion fehlt. Dies hat vielfältige Gründe: Die geographischeDistanz, die lange Abgeschottetheit während der Diktatur Salazars mit dem dadurch bedingten späten Beitritt zur EuropäischenGemeinschaft und nicht zuletzt die sprachliche Barriere. Daß Portugal jedoch ein lohnendes Untersuchungsobjekt auch für deutsche Wissenschaftler sein kann, beweisen die beiden hier anzuzeigenden Bücher, denen der Wunsch gemeinsam ist, dieses Land aus seinem Schattendasein herauszuholen.
Sänger untersucht in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation die portugiesische Entwicklung im 20. Jahrhundert um den gesamtgesellschaftlichen Prozeß eines rückständigen, isolierten und diktatorischen Landes auf dem Weg zu einer offenen und demokratischen Gesellschaft aufzuzeigen. Dabei spannt er den Bogen von der Gründung der ersten portugiesischen Republik im Jahre 1910 bis zur zweiten, heute noch gültigen Verfassungsreform von 1989 und bezieht sowohl politisch-administrative als auch ökonomische und soziokulturelle Prozesse in seine Untersuchung mit ein. Er unterscheidet vier Phasen: die Republik' (1910-1926), die Diktatur (1926-1974), die ,revolutionäre Phase' nach der Nelkenrevolution (25.4.1974-14.7.1976) und die ,portugiesische Republik' (ab 1976), deren jeweiliges politisches und wirtschaftliches System er detailliert beschreibt. In der wirtschafflichen und sozialen Disparität zwischen dem Norden und dem Süden des Landes, die nicht nur jede Strukturreform erschwert, sondern immer auch der Formierung einer einheitlichen Bewegung der Minderprivilegierten entgegenstand, erkennt er ebenso wichtige Kontinuitäten der portugiesischen Entwicklung bis in die Gegenwart wie in der Emigration - zuerst in die Kolonien und dann als Gastarbeiter in die Industrieländer Westeuropas, - die als Ventil für die sozialen Spannungen diente. Obwohl der enorme zeitliche Bogen in dieser Ausführlichkeit nicht unbedingt nötig gewesen ware, denn letztendlich steht die Transformation seit 1974 im Mittelpunkt seiner Arbeit, ist ihm für seinen Versuch der umfassenden Darstellung höchste Achtung zu zollen, und sein Werk liefert wertvolle Vorarbeiten für jede zukünftige Geschichte Portugals. Der Leser hätte ihm allerdings eine insgesamt straffere Darstellung gedankt, denn die 657 eng bedruckten Seiten, belegt durch fast 4500 Fußzgnoten und zahlreiche Statistiken, zeugen zwar von profunder Quellen- und Literatur-kenntnis des Verfassers, machen aber sein Werk, halb historisches Handbuch und halb politikwissenschaftliche Analyse, nicht gerade zu einem Lesevergnügen. Seine Hauptthese lautet, daß die Nelkenrevolution unvollendet geblieben ist und bereits nach kurzer Zeit die alten Eliten des Estado Novo ihre früheren Plätze wieder eingenommen haben. Zwar gesteht er zu, daß die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie gelang, jedoch wurde seiner Meinung nach dabei die Chance auf eine grundlegende Neugestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse verpaßt, da die verschiedenen politischen Gruppen nach der Revolution untereinander so verbissen um Macht kämpften, daß sie es versäumten, eine grundlegende wirtschaftliche und geseilschaffliche Strukturreform einzuleiten. Zudem wären von allen Gruppierungen außer den Kommunisten die Weichen schon sehr früh auf einen EG Beitritt gestelllt und so die Möglichkeit eines eigenen portugiesischen Weges vernachlässigt worden.Gegen diese Thesen kann man einiges einwenden: Zum einen ist es keine geringe Leistung, ein ftmktionierendes parlamentarisches System nach fast fünfzigjähriger Diktatur zu errichten und dabei auch die eigentliche Kraft hinter dem Putsch, das Militär, wieder aus der Politik zu verdrängen. Zum anderen beantwortet Sänger weder die Frage, von welcher Seite ein ausgereifter Entwicklungsplan an mittelbar nach dem Putsch hätte vorgelegt werden können/ noch die nach den Erfolgschancen emes eigenen portugiesischen Weges. Es mag ja stimmen, daß Teile der alten Herrschaftsschicht nach den turbulenten ersten Monaten wieder in ihren Machtpositionen zu finden waren, doch vemnochten auch sie letztendlich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückzudrehen. Portugal ist eine stabile Demokratie. Sängers Verdienst ist es zweifellos, die verschiedenen politischen und geseilschafflichen Gruppen/wie das Militär, die Gewerkschaften oder die Kirchen in seine Untersuchung einbezogen und ihren wandelnden Einfluß auf das politische Geschehen durchleuchtet zu haben. Gerade der Entstehung der Parteien und ihre programmatische und personelle Entwicklung bis zum Ende der achtziger Jahre widmet er erfreulich viel Raum, wenn man auch seinem Urteil, daß es ein Charakteristikum Portugals sei, daß die Führungspersönlichkeiten der Parteien in den Wahlen wichtiger seien als die Programme, entgegenhalten mag, daß diese Tendenz auch in vielen anderen Ländern zu beobachten ist. Das Fehlen jeglicher vergleichenden Perspektive ist denn auch eine eklatante Schwäche des ganzen Buches: Sänger konzentriert sich ausschließlich auf Portugal und ihm fehlt jegliche vergleichende Perspektive. Portugals Entwicklung erscheint als singulär, losgelöst von allgemeinencEntwicklungstendenzen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei gäbe es Anknüpfungspunkte, etwa beim Scheitern der ersten Republik, die im Vertrauensverlust der Parteien ihre maßgebliche Ursacbe hat oder bei der Ideologie des Salazarismus, denn faschistische oder autoritäre Systeme gab es eben nicht nur auf der iberischen Halbinsel. Sänger leistet dadurch indirekt dem Vorschub, was er zu vermindern hoffte: Zwar holt er Portugal teilweise aus seinem Schattendasein heraus, weist ihm aber eine absolute Sonderrolle in der Geschichte zu, wodurch er Portugal wieder von Europa abkoppelt.
Genau dieser Tendenz wirkt der Saminelband von Maria dos Santos Lopes, Ulrich Knefelkamp und Peter Hanenberg, der aus dem dritten deutsch-portugiesischen Arbeitsgespräch (10.-14. Oktober 1993) hervorging, entgegen. Die 16 Aufsätze widmen sich den unterschiedlichsten Aspekten bilateraler Beziehungen zwischen Deutschland und Portugal, wobei füinf in portugiesischer Sprache verfaßt, aber durch deutsch-oder englischsprachige Zusammenfassungen gut erschlossen sind. Historische Etappen, Kulturelle Minoritäten und Europäische Dislurse sind die Sektionen überschrieben, in denen sich die Autoren etwa deutschen Reisenden im Portugal des 15. Jahrhunderts (A.H. dc Oliveira Marques), oder der Geschichte der deutschen Kolonie im Portugal des 16. Jahrhunderts(Joao Jos~ Alves Dias) widmen. Manuel Fihipe Canaveira erhellt die Tätigkeit des Jesuitenmissionar Adam Schall in China, der zum Hofastronomen des chinesischen Kaisers Xum-Chi avancierte. Dem 20. Jahrhundert widmen sich die Beiträge von Armando B. Malheiro da Silva, der das Deutschlandbild in portugiesischen Konsularberichten zu Beginn des Jahrhunderts untersucht, sowie der leider nur sehr kurze Beitrag Ralf Nagels zum Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Lufs Cabral dc Moncada. Macaus Wirtschaftsbeziehungen zur Europäischen Gemeinschaft, insbesondere zu Deutschland seit den achtziger Jahren , ist der aktuellste Beitrag des Bandes. Weit ausgeprägter als die politischen Kontakte waren die kulturellen Beziehungen. Ihnen nänern sich sechs Beiträge: Die Darstellung der Deutschen im Flos sanctorum von 1513 (Helena Barbas) findet genauso Erwähnung wie die Rezeption der Herrschaft von König Sebastian und der Schlacht von Alcäcer Quibir im Deutschland des 16. Jahrhunderts (Ana Maria Ramalheira) oder der Einfluß des Theologen Martin Gerbert auf die Universität Coimbra (Manuel Augusto Rodrigues). Gleich zwei Beiträge befassen sich mit Reinhold Schneider und seinem Verhältnis zu Portugal (Maria Cristina Carrington und Maria Manuela Gouveia Delilie) und Barbara Borngrässer Klein analysiert die Entwicklung und den Stand der deutschen Kunstgeschichtsschreibung zum westlichsten Europas. Im dritten Abschnitt geht Lufs Reis Torgal der Frage nach dem Verhältnis des Salazarismus zu Deutschland und Europa nach, ehe Orlando Grossegesse das Deutschlandbild Jose Saramagos untersucht. Dem Image Portugals in der deutschen Literatur spürt Peter Hanenberg in einer grundsätzlichen Erörterung der Rolle der Peripherie in der deutschen Literatur nach, bevor der Band mit Alfred Opitz ins Grundsätzliche weisenden theoretischen Erörterungen zur Länderimagologie schließt. Aufsätze über einen Zeitraum von füinfhundert Jahren und über derartig unterschiedliche Themen/lassen sich nicht in einem Satz bewerten. Sie sind von verschiedener Länge und Qualität, da einige die Summe langjähriger wissenschaftlicher Auseinandersetzung bilden, es sich bei anderen aber um Zwischenberichte laufender Forschungsprojekte handelt. Dementsprechend vorläufig und unvollständig sind manchmal die Ergebnisse, doch sie haben alle eines gemeinsam: In ihrer Gesamtheit geben sie ein buntes und überraschend vielfältiges Bild von den deutsch-portugiesischen Beziehungen seit der Frühen Neuzeit. Sie beweisen auch, wie lohnend die Beschäftigung mit den Ländern sein kann, die sicherlich nie im Zentrum deutscher Politik standen. Man kann nur hoffen, daß die gegebenen Anregungen zu einer intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Portugal führen. Beide Bücher erschließen jedenfalls mannigfaltige Forschungsperspektiven und laden zur Weiterarbeit ein.
Freiburg, Jürgen Zimmerer
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