Reinhard Schiffers (Hg.): Weniger Länder - mehr Föderalismus? Die Neugliederung des Bundesgebietes im Widerstreit der Meinungen 1948/49- 1990. Eine Dokumentation. 421 S., Droste Verlag. Düsseldorf 1996.

 

Seit es die Bundesrepublik gibt, gehörten Fragen nach ihrer territorialen Gliederung zu den Standarddiskussionen verschiedenartigster Institutionen und Parteiungen. Es scheint wohl in der Natur eines bundesstaatlich organisierten demokratischen Staatswesen zu liegen, daß seine gebietliche Aufteilung bestimmten Gesichtspunkten zu gehorchen habe, die seinen inneren Zusammenhalt weder antasten noch gar verletzen. Das Bekenntnis zum Föderalismus impliziert die Ablehnung des einheitsstaatlichen Modells. Im deutschen Kontext heißt Einheitsstaat' zumindest - in einem abgemilderten Sinne - Absage an das Modell dezentralisierter Entscheidungsmodalitäten, in einem strengen Sinne Absage an ein etatistisch-diktatoriales System. Vice versa ist jedes Bekenntnis zum Föderalismus ein Bekenntnis zu mehr demokratischer, zu mehr freiheitlicher Politikgestaltung. Ist also ein politisches Gemeinwesen, das gebietlich ziemlich stark zerklüftet ist, "demokratischer" als eines, das nur aus wenigen Gebietskörperschaften besteht? Und was ist hier unter "demokratisch"' zu verstehen: Das landsmannschaftliche Bewußtsein der Menschen und dessen politische Artikulierung? Das finanzwirtschaftliche Potential eines Landes und damit die Möglichkeit der Lösung großer Probleme? Verliert die Demokratie in der Bundesrepublik an Substanz, wenn die Zahl der Länder bleibt, wie sie ist, oder wenn sie reduziert wird? Wer darüber Aussagen anstellen will, muß die Geschichte kennen, muß die einschlägigen Materialien studieren. Diese liefert uns in konziser Gestalt die vorliegende Dokumentation.

Die nach der Inkorporierung der alten DDR wieder aufgefrischte Debatte um die Neugliederung des Bundesgebietes scheint auch ein Anhaltspunkt datür zu sein, daß gerade auch in einer Demokratie binnenstaatliche Grenzen nicht für die Ewigkeit festgelegt sind, sondern von Zeit zu Zeit frei zur Disposition stehen, wenn sachliche Gründe dafür zu sprechen scheinen. Das zeichnet eben die Offenheit einer Demokratie aus. Es war dem Parlamentarischen Rat wohlbewußt, sich in dieser Frage Enthaltsamkeit aufzuerlegen. Anzahl und Gebietsstand der Länder hatte der Verfassunggeber nicht ausdrücklich normiert. Die Möglichkeit einer territorialen "Flurbereinigung" war durch Art. 29 GG expressis verbis zugelassen.

Die von Schiffers edierte Sammlung gibt eindrucksvoll Zeugnis von dieser über fast fünf Jahrzehnte geführten Auseinandersetzung. Die Auswahl, die kein wichtiges Material ausläßt, reicht von den Frankfurter Dokumenten der Alliierten vom Juli 1948 bis zu den ersten freien Wahlen in den neuen Bundesländern im Oktober 1990. Es gereicht der Sammlung gewiß nicht zum Nachteil, daß sie nicht nur die offiziellen, parteilichen oder jurisdiktionellen Texte enthält, sondern auch Licht auf die publizistische Seite der zum Teil heftigen Debattenführung wirft. Dem Herausgeber ist überdies Dank dafür auszusprechen, daß er die Mühe nicht gescheut hat, auch ungedruckte Quellen heranzuziehen, so aus dem Archiv tür Christlich-Demokratische Politik, der Bibliothek des Bundesrates (die Protokolle des Rechtsausschusses) und dem Parlamentsarchiv des Bundestags. Der Herausgeber hat in einer fast hundert Seiten umfassenden Einleitung die zentralen Stadien dieser Diskussion referiert (11-106). Dabei ist er auch auf die entsprechenden Diskussionen sowohl im Kaiserreich (11 f) als auch in der Weimarer Republik, die ja bekanntlich nicht zu einer Lösung geführt haben (12-22), eingegangen. Nützlich ist ein wenn auch knapp gehaltenes biographisches Register aller Personen, die mit der Materie befaßt waren, von Adenauer bis Georg A. Zinn (411-421). Unnötig, darauf hinzuweisen, daß der Band ein Quellen- und Literaturverzeichnis aufweist (400-410).

Schiffers hat in seiner Rückschau zu bedenken gegeben, daß vor allem die Kritik an der mangelnden historischen Tradition der nach 1945 geschaffenen Länder aus dem heutigen Blickwinkel nicht mehr so recht greife. "Inzwischen haben alle Bundesländer - auch die neuen - ihre Geschichte." (101). Außerdem verweist er auf die Ausgewogenheit, mit welcher die Besatzungsmächte damals die territoriale Ordnung in die Wege leiteten, vor allen Dingen bedingt durch den Wegfall der Hegemonie Preußens. Schiffers ist auch kein Freund von Zusammenschlüssen von alten und neuen Bundesländern, da derartige Fusionen die Identifikationsmöglichkeiten der Bevölkerung gerade in den "neuen" Bundesländern untergraben würden; dies sei höher zu veranschlagen als die funktionale Komponente (lO3f).

Insgesamt gesehen bietet die sorgsam zusammengestelle Edition eine recht einprägsame Reise durch eine Debatte, die trotz aller verfassungsrechtlicher Wertschätzung, die sie zweifelsohne erhalten hat, und aller politischer Brisanz, die sie in einzelnen Fällen gewinnen konnte, stets an der Peripherie des Macht- und Herrschaftsgebarens in der Bundesrepublik angesiedelt war. Mit Fragen der Territorialpolitik konnte keine Partei aufs Ganze gesehen Wähler mobilisieren und Wahlen gewinnen. Es war nie ein monströses Thema. Nur dort, wo Entscheidungen als dringlich erachtet wurden, drang dieser Problemkomplex über einen kleinen Kreis von Experten aus Politik und Wissenschaft hinaus und vermochte weitere Teile einer unmittelbar betroffenen Bevölkerung zu erfassen. Hier blieb gleichwohl der Lokalpatriotismus, der sich in den diversen Schüben der Neugliederungsdiskussionen immer wieder zu entzünden verstand - zuerst in den fünfziger Jahren in Altbaden, zuletzt in den 8oer Jahren, als drei Wiesbadener Stadtteile nach Mainz reintegriert werden sollten -, im Endeffekt stets auf der Strecke. Ausschlaggebend blieben immer wirtschaftliche oder fiskalische Argumente. Landsmannschaftliche Eigenarten, die ja laut Art. 29 GG in dessen erster Fassung von 1949 mit entscheidend bei einer Neugliederung sein sollten, wurden im Laufe der Zeit als quantite negligeable angesehen (so im sogenannten Ernst-Gutachten von 1973, im vorliegenden Band S.253).

Aus der Sammlung können wir weiter ersehen, daß - von einer Ausnahme abgesehen - sich seit 1949 im wesentlichen nichts geändert hat. Alle Kontroversen um die Bildung eines Nordstaates, um die Auflösung des Landes Rheinland-Pfalz, um die Hansestädte oder um die Stellung Nordrhein-Westfalens haben letztendlich zu nichts getührt. Die beharrenden Elemente verfügten offenkundig über die stärkeren Bataillone, vor allem in den betroffenen Gebieten.

Selbst als die fünf neuen Bundesländer angegliedert wurden und es erneut Diskussionen um eine Neuaufteilung des Bundesgebietes gab, geschah nichts. Nicht einmal das durch eine Änderung des Grundgesetzes ermöglichte Projekt einer Vereinigung Berlins mit Brandenburg konnte verwirklicht werden. Die erwähnte einzige grundlegende Ausnahme - nämlich die Südweststaatslösung - war offenkundig nur deswegen durchsetzbar, weil ein entsprechender ausdrücklicher Verfassungsauftrag vorlag (Art. 118 GG), um den man nicht herumkam. Schiffers dokumentiert, wie schwer sich die gesetzgebenden Gremien mit dieser ungeliebten Materie taten, wie dilatorisch sie behandelt wurde und wie gering die Leidenschaft entwickelt war, die ein solches Unternehmen benötigt und wie die Intentionen des Verfassunggebers Zug um Zug durch die Entwicklungen und geschaffenen Realitäten macht- wie wirtschafts- und finanzpolitischer Art "vergessen" wurden. Ein Beispiel parteipolitischer Natur ist eine Aussage des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger aus dem Jahre 1974:

Würden nur die Bundesländer Rheinland-Pfalz und das Saarland mit anderen Ländern vereinigt werden, würde dies der CDU im Bundesrat die sieben Stimmen beider Landesregierungen kosten (5. 275). Der Gang durch die parlamentarischen Instanzen verwässerte eine ~rundgesetzliche Norm immer mehr. Eine Teillösung schied aus, da insbesondere die Gegener einer Neugliederung mit stupender Beflissenheit darauf hinweisen konnten, daß jede Anderung im Kleinen gleichzeitig und zwangsläufig die Gestaltung des Gesamtstaates tangiere. Markstein datür war die Umwandlung des strikten Verfassungsauftrags in Art. 29 GG in eine Kann-Formel (nach dem Gesetz vom 23.8. 1976, hier S. 307 f). Das entsprach einer Entlastung des Gesetzgebers und öffnete gleichzeitig dem territorialpolitischen Voluntarismus der maßgeblichen Repräsentanten Tür und Tor. Heute, am Ende des Jahrtausend, vermögen nur Haushaltszahlen oder andere finanzwirtschaftliche Kennziffern eine durchgreifende und gehaltvolle Debatte zur Neugliederung anzustoßen.

 

Heidelberg, Arno Mohr

 

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