Karl Schlögel (Hg.): Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941. 448 S., C.H. Beck Verlag, München 1994.
Kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in den letzten Jahren der Perestrojka, gewann die Geschichte der russischen Emigration auch in jenem Lande, aus dem Hundertausende einst geflohen waren oder vertrieben wurden, zunehmend an Bedeutung. Im Fernsehen wurden Berichte über emigrierte Familien gezeigt, in der Presse und sogar in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen durchaus objektive Berichte und Aufsätze. Ein Teil Rußlands kehrte nach Jahrzehnten zurück und wurde wieder - unter nicht geringen Problemen - aufgenommen in die Heimat, die nun, am Ende der Sowjetzeit, gänzlich verändert war.
Karl Schlögel, der Herausgeber dieses ausgezeichneten Bandes, ist einer der besten Kenner der Geschichte der russischen Emigration nach 1917. Sein Forschungsschwerpunkt lag dabei auf jenem Teil der Emigranten, der das Deutsche Reich, insbesondere Berlin, als neuen Wohnort wählte. In dem vorzustellenden Sammelband werden nun auch die anderen Zentren der Emigration von Gallipohi und Istanbul bis Charbin, Shanghai und New York vorgestellt. Keiner übrigens weiß genau, wie viele Menschen denn aufgrund von Revolution und Bürgerkrieg Rußland für immer verließen. Mit einiger Gewißheit ist wohl davon auszugehen, daß es rund zwei Millionen Flüchtlinge waren.
Wie bei Sammelwerken üblich, wählten die Autoren unterschiedliche Zugänge und Darstellungsformen, bevorzugten einen eher kulturgeschichtlichen oder sozialgeschichtlichen Ansatz, manche Mischformen daraus. Einigen Beiträgen russischer Autoren ist ein mehr oder minder starkes Maß an Betroffenheit und gleichzeitiger Befreiung anzumerken. Sie konnten nun endlich, gleich welcher Generation sie angehörten, ohne ideologische Zwänge und Beeinflussungen über dieses Thema schreiben.
Behandelt also werden in diesem Band als Zentren der Emigration: Gallipohi, Istanbul, Sofia, Belgrad, Riga, Tallinn, Helsinki, Warschau, Prag, Berlin, Paris, Rom, Charbin, Shanghai und New York. Ein letzter Beitrag beschäftigt sich mit den Bibliographien russischer Emigrantenveröffentlichungen seit 1917. So bietet das Buch in seiner schönen Heterogenität einen eindrucksvollen Überblick über eine der größten Tragödien dieses an Tragödien so reichen Jahrhunderts, wie Schlögel in seiner Einleitung vermerkt. Manche der Beiträge sind erste Überblicke und kommen über den Rahmen einer Aufzählung von Fakten kaum hinaus, andere dringen tief ein in ihren Gegenstand und versuchen kultur-, mentalitäts- und sozialgeschichtliche Ansätze zu vereinen. Die sozialen Aspekte kommen manchmal ein wenig zu kurz. Ich hätte mir öfter gewünscht, über das soziale Leben und dessen Schwierigkeiten an diesen Orten der Emigration mehr zu erfahren. Es überwiegt in gewisser Weise die Tätigkeit der intellektuellen Emigration mit all ihren geistigen Produkten und ihren tiefschürfenden Diskussionen, aber der alltagsgeschichtliche Faktor kommt nicht eben oft vor. Dies liegt sicherlich auch am fehlenden Material, also daran, daß es sich, das sollte nicht vergessen werden, bei vielen Beiträgen um Pionierarbeit handelt.
Zur Illustration sind dem Band zahlreiche Fotografien und einige weitere Abbildungen beigegeben worden. Störend fand ich den Gebrauch des Adjektivs "zaristisch", eindeutig negativ besetzt, in einem Band über die Emigration. Aber das ist nur als eine Randbemerkung zu verstehen. Wer etwas über die russische Emigration erfahren will, der muß zu diesem gelungenen Band greifen, der gewiß auch die weitere Forschung anregen wird.
Freiburg, Bonn, Dittmar Dahlmann
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