Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung. 303 S., Siedler Verlag, Berlin 2002.

 

Der Buchtitel führt etwas in die Irre. Nicht die Globalisierung steht bei Stiglitz am Pranger, sondern der Internationale Währungsfonds (IWF). Der Verfasser rechnet schonungslos mit der Politik des IWF ab, der Schwesterorganisation (im Rahmen der Bretton-Woods-Institutionen) seines vormaligen Arbeitgebers, der Weltbank.

Joseph Stiglitz erhielt 2001 für seinen Beitrag bei der Begründung der "Informationsökonomik" den Nobelpreis für Wirtschaft. Seine theoretischen Arbeiten, die sich überwiegend mit unvollkommenen Märkten befassten, schärften früh seine Kritik an volkswirtschaftlichen Standardmodellen, wie sie der IWF benutzt. Für ihn bleibt die Lehre Keynes' in ihren Grundzügen gültig. Bevor er 1997 die Position des Chefvolkswirts und Senior Vizepräsident der Weltbank übernahm, hatte er bereits vier Jahre als Mitglied und zeitweiliger Vorsitzender des Sachverständigenrats Präsident Bill Clinton wirtschaftswissenschaftlich beraten.

Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern versteht sich als ein Anstoß für Debatten darüber, wie die Globalisierung gestaltet werden kann. Nach einer kurzen Einführung, in der der Verfasser auch auf seine eigene Rolle während der Clinton-Jahre eingeht, folgen zunächst Beispiele der negativen Auswirkungen der IWF-Rezepturen vor allem in Afrika und etwas grundsätzlichere Überlegungen zu den Maßnahmen des IWF. Im Hauptteil des Buches stellt Stiglitz die Fehler des IWF im Vorlauf zur und während der Asien- und der Russlandkrise heraus. Ein kurzes sechstes Kapitel prangert die Diskrepanz zwischen den Rezepten, die der IWF und die USA anderen Ländern vorgeben, und deren eigenen Praktiken an. Die fehlgeschlagenen Maßnahmen des IWF werden dann mit Beispielen von Ländern kontrastiert, die sich über die Empfehlungen des IWF hinweggesetzt haben und sich - laut Stiglitz - gerade deswegen erfolgreich in die Weltwirtschaft einklinken konnten. Im nächsten Kapitel führt er noch einmal aus, wie sehr der IWF den Interessen der Finanzmarktakteuren verhaftet ist. Das Buch endet mit recht umfassenden Vorschlägen zur Reform des IWF, der Weltbank, der Entwicklungshilfe und der Regeln für den Weltmarkt im Allgemeinen.

Die Leser, die sich mit der Politik des IWF beschäftigt haben, werden wenig Neues in diesem Buch finden, einzig vereinzelte Hinweise darauf, wie der IWF und insbesondere das US-Finanzministerium ihre Politik durchgesetzt haben. Zwar betont Stiglitz, dass er die in Asien kursierenden Verschwörungstheorien über den IWF und dessen Rolle in der Asienkrise ablehnt, doch er führt aus: "ich glaube, dass es eine einfachere Erklärung gibt - der IWF beteiligte sich nicht an einer Verschwörung, sondern vertrat die Interessen und die Ideologie der westlichen Finanzwelt. Geheimniskrämerische Verfahrensabläufe isolierten die Institution und ihre Politik vor jener intensiven Prüfung, die sie vielleicht dazu gezwungen hätte, Modelle zu benutzen und eine Politik zu betreiben, die besser auf die Situation in Ostasien zugeschnitten wäre." (154-155) Stiglitz beschreibt wie der Staatssekretär im Finanzministerium (und heutige Präsident der Harvard-Universität) Lawrence Summers, zusammen mit dem Vorsitzenden des Nationalen Wirtschaftsrats, Robert Rubin, eine Denkschrift des Wirtschaftssachverständigenrats gegen eine zu schnelle Liberalisierung der südkoreanischen Kapitalmärkte unterdrückte. Beide unterbanden später in der Krise auch die Idee eines asiatischen Währungsfonds. Als "Sachverwalter der Interessen der Finanzwelt" (238) mache sich der IWF mehr Sorgen um die Zahlungsfähigkeit von Ländern (damit diese Länder ihre Dollar-Kredite zurückzahlen können), als um deren globale Stabilität und ihre wirtschaftliche Erholung. Stiglitz, der nach eigenen Angaben häufig mit dem IWF in Konflikt geriet und von diesem ausgebremst wurde, schreckt selbst nicht vor beißender Kritik zurück. "Pure Überheblichkeit" herrsche beim IWF, dessen "imperialistische Allzuständigkeit" weit in die Bereiche der Weltbank hineinreiche. Deshalb meint Stiglitz folgende Analogie ziehen zu können: "Die moderne High-Tech-Kriegführung ist darauf ausgerichtet, physischen Kontakt zum Feind zu vermeiden: Wenn man Bomben aus einer Höhe von 10.000 Metern abwirft, "spürt" man nicht, was man tut. Bei der modernen Wirtschaftssteuerung verhält es sich ganz ähnlich: Von seinem Luxushotel aus kann man gefühllos Konditionen auferlegen, über die man zweimal nachdächte, würde man die Menschen kennen, deren Leben man zerstört." (38)

Inhaltlich ist seine Kritik überzeugender. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs identifiziert der Verfasser als "den wichtigsten Einzelfaktor" der von ihm beschriebenen Krisen. So lautet seine gut fundierte Antwort auf den suggestiven Titel des fünften Kapitels "Wer hat Russland zu Grunde gerichtet?": "Der IWF hatte die Regierung ermuntert, den Kapitalmarkt zu öffnen und die freie Kapitalbewegung zu ermöglichen. Diese Politik sollte das Land für ausländische Investoren attraktiver machen; aber sie war praktisch eine Einbahnstraße, die die Kapitalflucht aus dem Land erleichterte." (172) Im Unterschied dazu positioniert sich Stiglitz eindeutig zu Gunsten des chinesischen Weges der "Politik des sanften Wandels". Die bisherigen Erfolge Chinas scheinen ihm Recht zugeben, doch ist es schon auffällig, dass in seiner Darstellung der Asienkrise keine Zeile über die drastische Währungsabwertung der chinesischen Regierung von 1994 zu finden ist. Diese hatte nicht unerheblich zu den späteren Schwierigkeiten Thailands und der anderen südostasiatischen Krisenländer beigetragen. Kommt China bei ihm deshalb so positiv weg, weil er einer der wenigen Ausländer war, "die zu einer der traditionellen politischen Klausurtagung in der chinesischen Staatsführung eingeladen wurde" (111)?

So polemisch seine Kritik auch manchmal ausfällt, sie ist gegenüber dem IWF und dem US-Finanzministerium völlig berechtigt. "Die Schatten der Globalisierung" ist unbedingt empfehlenswert für alle, die sich noch nicht näher mit den sich häufenden Krisen der Globalisierung beschäftigt haben. Die derzeit sich anbahnende erneute Währungskrise Brasiliens lässt sich nach der Lektüre des Buches wesentlich besser verstehen. Schade ist nur, dass Stiglitz nicht mehr über die Institution geschrieben hat, die er wesentlich besser kennt: die Weltbank. Vielleicht können wir uns noch auf ein Encore freuen.

 

Kassel, Christoph Scherrer

 

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