Lawrence D. Stokes: Der Eutiner Dichterkreis und der Nationalsozialismus 1936-1945. 470 S., Wachholtz Verlag, Neumünster 2001 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig Holsteins Band 111).
Als Lawrence D. Stokes 1984 die idyllisch gelegene norddeutsche Kleinstadt Eutin mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontierte ("Kleinstadt und Nationalsozialismus"), konnte er als kanadischer Historiker (Universität Halifax) auf die Bestände des Berliner Document Center zurückgreifen. Seitdem gilt Stokes als Kenner jener kleinstädtischen Verhältnisse, die u. a. dadurch ein besonderes Gewicht erhielten, dass Hitler selbst bereits 1926 in Eutin war. Nach Stokes` Worten war Eutin damals eine sogenannte nationalsozialistische Hochburg.
Jetzt hat Stokes ein zweites großes Oeuvre vorgelegt, das wie schon das erste wiederum eine Dokumentation ist. Darin liegt die Stärke, aber zugleich auch die Schwäche des Buches; denn die Wertungen, die Stokes vornimmt, die Folgerungen, die er zieht, stehen in keinem Verhältnis zu dem ausgebreiteten Material.
Das einleitende Kapitel (S. 12-41), das der Dichtung gewidmet ist, stammt aus der Feder des Hamburger Literaturwissenschaftlers Kay Dohnke. Er beschreibt die "Norddeutsche Regionalliteratur zwischen Heimatkunstbewegung und Nationalsozialismus" und will seine Ausführungen als "Anmerkungen zur Genese eines literarisch-ideologischen Kräftefeldes 1900-1933" verstanden wissen (S. 12). Von der Heimatdichtung spannt sich die Brücke zur tendenziösen, nationalsozialistisch infiltrierten Dichtung nach 1933. Und dies nicht von ungefähr. Indem dieses Genre auf "soziale, psychologische und politische Deutungsmuster der gesellschaftlichen Wirklichkeit" verzichtete, zeigte sich eine "allgemein gern übersehene Tendenz zur Ideologie" (S. 13). Diese bestand allerdings zunächst nur in "nostalgischen, idyllisierenden, kontemplativen" Grundhaltungen (ibd.). Diese so vorgenommene ideologische Etikettierung bestimmt sich, wenn man genau hinsieht, aus einer Ex-Post-Sicht, als viele Autoren sich ultimativ geäußert hatten, in Form von Ergebenheitsadressen gegenüber dem Regime und zum Teil unverdaulicher Prosa und Lyrik.
In diesem Zusammenhang begegnet jedoch noch ein anderes Phänomen, das indes von Stokes nicht näher verfolgt oder gar erklärt wird. Gemeint ist der Übergang von einer Ideologie zur anderen, also nicht von Nostalgie zur Regimeverherrlichung. So konnte z. B. Hermann Claudius sowohl von den Sozialisten als auch von den Nationalsozialisten in Anspruch genommen werden. Marschierten die einen, sein Kampflied singend "Wenn wir schreiten Seit an Seit ...", so begrüßten die anderen seinen "Deutschen Spruch", ein Gebet für den Führer: "Herrgott steh dem Führer bei, dass sein Werk das deine sei, dass dein Werk das seine sei ..." Wobei man als uneingeweihter Interpret immerhin die zweite Strophe als die eigentliche Aussage verstehen könnte: "Herrgott steh uns allen bei."
Die Stärke des Buchs besteht zweifellos in der akribisch aufgezeigten Genese des Eutiner Kreises, der sich bewusst an seinen klassischen Vorgänger Ende des 18. Jahrhunderts anlehnte, ohne jedoch jemals dessen Breitenwirkung und Internationalität zu erlangen. Zwar sollte auch der neue Eutiner Dichterkreis eine Brücke zum Norden und zu den baltischen Staaten bilden, das Ergebnis stand allerdings in keinem Verhältnis zu den Bemühungen. Von den wenigen nordischen Gästen war allein der in Dänemark lebende, aus Island stammende Gunnar Gunnarsson von Bedeutung. Warum es bei dieser erklärten Intention keine näheren Beziehungen zu Knut Hamsun gab - außer einer Sonderausgabe der Zeitschrift der Nordischen Gesellschaft (Lübeck) zu dessen 75. Geburtstag -, bleibt letztlich ungeklärt. Deutlich geht aus den mitgeteilten Dokumenten hervor, welche alltäglichen Probleme dem Eutiner Kreis ins Haus standen. Nämlich zunächst die Finanzierung der Tagungen, der Publikationen, sodann die Konkurrenz mit ähnlich strukturierten Vereinigungen, z. B. in Bad Doberan, Lübeck und Hamburg. Schließlich gab es kleinstädtische Zänkereien, wer auf welchen Stühlen im Rittersaal des Schlosses sitzen durfte - bis hin zu der Frage, ob der Gärtner des Erbgroßherzogs von Oldenburg - er selbst gehörte zum Kreis - für den Blumenschmuck während der Veranstaltungen sorgen durfte, ohne selbst Mitglied der Partei zu sein. Hinzu kamen wie eh und je persönliche Rivalitäten einzelner Schriftsteller untereinander. Spätestens 1942, als auch das Papier zum Drucken immer knapper wurde, war Eutin "sanft und selig entschlafen", wie es aus den eigenen Reihen tönte (S. 117), der "ganze Eutiner Laden ... auf ein etwas totes Geleis geraten" (S. 187).
Dabei mag es immerhin interessant sein, dass man primär darauf bedacht war, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren - wie immer man auch gedruckte Verlautbarungen werten mochte. Zwar hatte man anfangs - mindestens zweimal - den Versuch unternommen, sich eine Satzung zu geben, doch blieb es bei Entwürfen. Diese allerdings wirken eher harmlos. So verfolgte die sog. Stiftung Eutiner Kreis 1936 den Zweck (§ 5), "eine von dem Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg in der Stadt Eutin begründete künstlerische Tradition fortzusetzen und einem Kreis von niederdeutschen Dichtern und Erzählern Gelegenheit zu geben, sich in Eutin zwecks Aussprache und Anregung alljährlich zusammenzufinden" (S. 132). In dem Entwurf von 1938 nannte sich der Kreis u. a. eine "freie Gemeinschaft", die "keine politischen Ziele" verfolgen, sondern "lediglich auf geistigem Gebiet für die Annäherung und für den Frieden zwischen stammverwandten Völkern des Nordens wirken und werben" wolle (S. 134). Hans Friedrich Blunck, ehemals Präsident der Reichsschrifttumskammer und prominentestes Mitglied des Kreises, betonte mehrfach, dass in Eutin "ein Stück Kulturgeschichte" geschrieben würde (S. 97). Am ehesten ließ sich ein solcher Anspruch noch aus den Veranstaltungsprogrammen herleiten, wenn Ausstellungen der Landesbibliothek, wissenschaftliche Vorträge und musikalische Aufführungen angezeigt wurden. Immerhin dirigierte Hermann Abendroth vom Leipziger Gewandhaus das Orchester der Städtischen Oper Lübeck.
Indes fällt es schwer, wie Stokes selber (S. 431) zugibt, nationalsozialistisches Gedankengut auf den vier Tagungen (1936, 1937, 1938 und 1942) zu orten oder gar den fünf schmalen Bänden des Almanachs zu entnehmen. Dafür werden andere Quellen, Kontexte und schließlich biographische Daten herangezogen. So ist denn auch ein beträchtlicher Teil des Buches (S. 212-429) den Lebensläufen der einzelnen Mitglieder des Eutiner Kreises gewidmet, wobei einschränkend festzustellen ist, dass es sich zumeist um Teilbiographien handelt. In der Regel enden die Darstellungen mit dem Jahre 1945. So bleibt die Frage offen, in welcher Weise danach die Betreffenden publizistisch und auch sonst tätig waren. Viele von ihnen haben den Krieg und das nationalsozialistische Regime um Jahrzehnte überlebt. Christian Jenssen gar starb 1996 im Alter von 91 Jahren.
Gerade nun an diesen Teilbiographien wird deutlich, dass Stokes gut daran getan hätte, Kriterien dafür zu entwickeln, was ihn zu dem Resümee veranlasste, letztlich den Eutiner Dichterkreis "in Hinsicht auf seine Ursprünge, Selbstdarstellung, Erzeugnisse und Angehörigen als nationalsozialistisch zu bezeichnen" (S. 432). Eher trifft Kay Dohnkes Urteil zu, dass es sich um keine "homogene Gruppe" handelte (S. 41). Doch auch Stokes selbst kann dieses Phänomen nicht einfach ignorieren. Ist es also Dialektik, wenn seine Urteile des öfteren dem Schema Zwar-aber bzw. Wenn auch nicht-so doch verhaftet sind? Und bleibt der Leser damit nicht allein gelassen, indem er selbst die Synthese finden muss? Einige Marginalien zeugen vom Mut des Verfassers. Dazu gehört (S. 48), Goethe mit dem Ausspruch, Eutin sei das "Weimar des Nordens" zu zitieren, ohne diesen zu belegen. Dazu gehört weiter, die Folgen von Königgrätz (1866), nämlich das Entstehen eines deutschen Nationalstaates unter der Führung Preußens, um ein Jahrhundert vorzuverlegen, auch wenn nicht einmal die Schlacht von Leuthen (1757) den Siebenjährigen Krieg entschied (S. 377 Anm. 1).
Was bleibt, ist u. a. das, was den Historiker Stokes nicht primär bewegte, obwohl er bei der Vorstellung seines Buches in Eutin sein ästhetisches Empfinden durchaus bekundete, nämlich die interessante Lektüre von häufig missglückter Prosa und Lyrik sprich Kitsch. Wobei natürlich die Frage offen bleibt, ob die Menschen damals nicht ganz anders rezipierten als wir heute.
Eutin, Gerd Bockwoldt
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