Heinrich Tappe: Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. 401 S., Steiner, Stuttgart 1994.
Daß mit der industriellen Revolution auch ein tiefgreifender Wandel von Lebensgewohnheiten einherging, ist ein Gemeinplatz der europäischen Sozialgeschichtsschreibung, der in zahllosen Arbeiten zu Themen wie Wohnen, Freizeit, Ernährung, Gesundheit etc. belegt ist. Zu den Aspekten der industriellen Revolution, die auch von den Zeitgenossen - wenn auch nicht in dieser Form - wahrgenommen wurden, gehört die quantitative und qualitative Entwicklung des Alkoholkonsums. Der vorliegende Band Heinrich Tappes steht insofern am vorläufigen Ende einer Tradition, die mit den Schriften der Alkoholgegner im 19. Jahrhundert ihren Ausgang nahm und mittlerweile die Sozial- und Kulturgeschichte des Alkohols behandelt.
Was will der Autor dem hinzufügen? Vor allem geht es Tappe darum, den gut dokumentierten Konjunkturen des Alkoholkonsums und seiner Kritiker eine Darstellung der Entwicklung der Alkoholproduktion zu Seite zu stellen und diese drei Ebenen in Beziehung zu setzen. Die als deskriptiver Überblick zu Produktion, Konsumption und Thematisierung von ca. 1820-1914 angelegte Arbeit möchte zusätzlich die Fixierung der Historiography auf das Trinkverhalten der Unterschichten beenden und regionale Unterschiede in Deutschland deutlicher als bislang geschehen herausarbeiten.
Die Quellengrundlage bilden, neben klassischen Behördenakten und Materialien zur Geschichte der Alkoholgegner, Verbrauchs- und Produktionsstatistiken, wie sie bei Besteuerung oder Ähnlichem entstehen. Diese sind in zahlreichen, zumeist übersichtlichen Statistiken und Grafiken gut aufbereitet. Daß zudem die Quellenkritik nicht nur in der Einleitung, sondern - wie es sich gehört - kontinuierlich im Text stattfindet, verdient hervorgehoben zu werden. Es erleichtert die Orientierung im Text und erhöht seine Glaubwürdigkeit.
Nachdrücklich belegt die Arbeit, daß die "Branntweinpest" des Vormärz eine Konsequenz des Aufblühens ländlicher industrieller Brennereien besonders in Norddeutschland war. Daß diese unvergleichlich preiswerte hochprozentige Alkoholika bereitstellen konnten, regte tiefgreifende Veränderungen des Konsumentenverhaltens an, die allerdings regional sehr unterschiedlich ausfielen. Das solchermaßen aus dem Alltagskonsum verdrängte Bier konnte nach der Jahrhundertmitte wiederum infolge eines spezifischen Industrialisierungsschubes der Brautechnik eine zweite Welle des Alkoholkonsums begründen. Selbige nahm charakteristischerweise in genau jenen Regionen Süddeutschlands ihren Ausgang, die sich in der Branntweinkonjunktur als rückständig erwiesen hatten. Für die Rückkehr des Bieres war somit die erste Anti-Branntwein-Bewegung kaum von Bedeutung. Ebenso blieben echte fiskalische Beschränkungen seitens der Staaten, die seinerzeit bis zu 10% des Budgets aus der Branntweinsteuer bestritten, zunächst aus. Der Aufschwung des Bierkonsums erklärt sich für Tappe vielmehr aus einem auch infolge zunehmender Qualität gestiegenen Sozialprestiges des Getränks. Das ehemalige Grundnahrungsmittel Bier machte also Karriere als Freizeitgetränk. Daher verdrängte auch nicht steigender Bierkonsum sondern erst die restriktive Branntweinsteuerreform von 1887 den billigen Fusel bis auf weiteres. Der Bierkonsum des Kaiserreiches zeichnete sich dann durch zunehmende regionale und soziale Nivellierung aus, im Gegenzug verfestigten sich geschlechtsspezifische Konsummuster.
Mehr Erfolg als die bornierten Abstinenzler der Jahrhundertmitte konnten um die Jahrhundertwende schließlich die Temperenzler verbuchen. Die erst nach dem Höhepunkt des Konsums einsetzende Bewegung profitierte allerdings von der zunehmenden sozialen Degradierung des Alkohols etwa in der Jugendbewegung, der Thematisierung des Alkoholismus durch die Medizin sowie der erhöhten Verfügbarkeit alkoholfreier Alternativgetränke. Tappe sieht in den Temperenzlern mit guten Gründen eher ein Symptom als die Ursache des Nach der Jahrhundertwende sinkenden Alkoholkonsums.
Daß sich Tappes Buch im wesentlichen auf eine deskriptive Analyse von Produktion und Verbrauch beschränkt und den aktuellen kulturwissenschaftlichen Trends in der Geschichtswissenschaft kaum Tribut zollt, wird manche und manchen stören. Umsomehr als, wie Hasso Spode jüngst gezeigt hat, der kulturellen Praxis des Alkohols einiges abzugewinnen ist. Dem sei entgegnet, daß die eher traditionelle Herangehensweise auch ihre Berechtigung hat - zumal wenn sie so gründlich und überzeugend daherkommt, wie in diesem Falle.
Heidelberg, Christoph Gradmann
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