Michael Wolffsohn: Die Deutschland-Akte: Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden. 396 S., Ed. Ferenczy bei Bruckmann, München 1995.
Der Münchner Zeithistoriker Michael Wolffsohn ist in seiner neuesten Veröffentlichung der Frage nachgegangen, welche Politik die SED gegenüber den jüdischen Bürgern im eigenen Herrschaftsbereich, dem Staate Israel und den US amerikanischen Juden verfolgt hat. Die Politik der DDR gegenüber den Juden und jüdischen Organisationen bildet bei Wolffsohn allerdings nur das Hintergrundpanorama, vor dem eine Fülle weiterer Themen ausgebreitet, oftmals auch nur angerissen wird. Im ersten, über hundert Seiten langen Eingangskapitel schildert der Autor zunächst die Ende der fünfziger Jahre einsetzende, "antifaschistische" Propagandakampagne des Politbüros, die 1963 im Schauprozeß gegen den bundesdeutschen Staatssekretär Hans Maria Globke kulminierte. Wolffsohn behandelt hier ferner die Israel-Forschung in der DDR und das "gewendete" Verhältnis früherer DDR-Funktionäre zum Judentum.
Der folgende Abschnitt handelt zum überwiegenden Teil von den Anfang der fünfziger Jahre durchgeführten, innerkommunistischen Parteisäuberungen, bei denen - insbesondere im Zusammenhang mit dem auch antisemitisch motivierten Slansky-Prozeß vom November 1952 - hohe deutsch-jüdische Parteifunktionäre ins Kreuzfeuer gerieten. Wolffsohn konnte unmittelbar nach der "Wende" die MfS-Untersuchungsakten einzelner Beschuldigter einsehen, anhand derer er die typischen Täter-Opfer-Verstrickungen ausgedehnt schildert. Wolffsohn setzt die Akzente anders als beispielsweise sein amerikanischer Kollege Jeffrey Herf, wird dabei jedoch der Komplexität des Themas nicht gerecht, weil er alle Vorgänge und Handlungen ausschließlich an seinem Idealtypus moralischer Integrität mißt.
Im zweiten Teil des Bucbes geht es vorrangig um die Wiedergutmachungsthematik, die die ohnehin frostigen Beziehungen der DDR zu den USA und Israel über Jahre hinweg enorm belastete. Die Forderungen auf finanzielle Wiedergutmachung, die der Staat Israel und die großen jüdischen Organisationen in regelmäßigen Abständen an die DDR-Partei- und Staatsführung richtete, schmetterte PB-Mitglied Albert Norden im Jahre 1952 mit den Worten ab:
"Wir zahlen allerdings nicht an den Staat Israel Geld, damit er seine Waffengeschäfte mit Faschisten betreiben kann" (S.3O). Finige Jahrzehnte später konnte sich die DDR diese Maximalposition eines "konsequenten Antifaschismus" jedoch nicht mehr leisten, denn auch das "bessere Deutschland" mußte sich bekanntlich bald den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beugen. Die Verhandlungen um finanzielle Wiedergutmachung, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erneut auf der Tagsordnung standen, verliefen äußerst zäh und endeten - so sieht es jedenfalls Wolffsohn - ohne einen einzigen greifbaren Erfolg für die westlichen Verhandlungspartner. Demgegenüber habe aber die DDR jahrelang von den sich zunehmend verbessernden Handelsbeziehungen zu den USA profitieren können. Der Verfasser kommt in seiner Studie zu dem Schluß, daß die SED-Parteiführung während der ersten beiden Jahrzehnte nach Staatsgründung den z.T. in offener Verfolgung gipfelnden Antisemitismus von der Sowjetunion übernommen habe. Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als der inzwischen verblaßte antifaschistische Gründungsmythos wieder aufpoliert werden mußte, habe sich die SED zu einer Förderung des deutschjüdischen Kulturerbes entschlossen.
Wolffsohns Buch hinterläßt einen äußerst zwiespältigen Eindruck. Typisch für seinen geschichtspolitischen Standpunkt ist, daß er seine Akteure ausschließlich nach moralischen Aspekten beurteilen will und deshalb ihre tatsächlichen Handlungsspielräume nicht auslotet. Die vorliegenden Forschungsergebnisse nimmt Wolffsohn in der Regel nicht zur Kenntnis, so daß er zu überzogenen Schlußfolgerungen gelangt. Die Schärfe seiner zeitgeschichtlichen Analyse leidet daher vor allem unter ihrem Mangel an Wissenschaftlichkeit. Auf der anderen Seite handelt es sich aber bei diesem Buch über weite Strecken um eine journalistische Darstellung, die sich an ein breites Leserpubhkum richtet. Dieser Umstand wäre an sich kein Negativpunkt, wenn sich der Verfasser wenigstens an die professionellen Regeln eines sauberen Journalismus gehalten hätte. Aber auch bei seinen Recherchen zu tagespolitischen Themen, wie der Verfolgung von DDR-Funktionärskriminalität, sind Wolffsohn gravierende und überflüssige Fehler unterlaufen. Der Anmerkungsteil der Veröffentlichung bietet zwar eine Fülle neuerer Archivfunde, die Darstellung selbst bleibt jedoch in weiten Teilen unterhalb populärwissenschaftlichen Nivaus.
Berlin, Annette Weinke
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