Horst Möller / Udo Wengst (Hrsg.): Einführung in die Zeitgeschichte. 335 S., C. H. Beck, München 2003.

 

Anders als die neue Kultur- oder Diskursgeschichte gehört die Zeitgeschichte zu den längst etablierten Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft. Im Unterschied zum linguistic oder cultural turn definiert sie sich weniger über einen spezifischen methodischen Zugriff auf die Vergangenheit als über die zeitliche Abgrenzung ihres Gegenstandsbereichs. Dies bringt zugleich auch die zentrale theoretische Herausforderung in der Selbstbeschreibung von Zeitgeschichte mit sich: Da sie als jüngste Epochenabgrenzung jeweils zum Ende hin offen ist, stellt sich die Frage, wo ihr Anfang zu finden sei. Kann er „fest“ liegen oder muss er mit dem Generationswechsel zeitlich wandern? Seit Hans Rothfels die Grundfragen der Zeitgeschichtsforschung in Deutschland 1953 in einem Aufsatz formulierte, wurde häufig 1917 als Epochenjahr angegeben; durch den Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution schien der grundlegende Mächtedualismus angezeigt, der die Weltpolitik des 20. Jahrhunderts dominierte. Ist das noch länger aktuell?

Wenn einige Historiker aus dem Institut für Zeitgeschichte in München nun eine Einführung in ihr Fachgebiet vorlegen, lässt dieser Band Antworten auf solche Fragen und eine Bestandsaufnahme eines halben Jahrhunderts zeitgeschichtlicher Forschung erwarten, erscheint er doch exakt 50 Jahre nach dem programmatischen Rothfels-Aufsatz.

Wie also hat sich Zeitgeschichte im letzten halben Jahrhundert verändert? Nach der Lektüre der neuen Einführung zu schließen - kaum. Sicherlich sind 50 weitere Jahre zu bearbeiten, doch weder ist ein neuer Konsens über den zeitlichen Anfang der Zeitgeschichte gelungen noch scheint das Methodenarsenal der Disziplin ausgeweitet. Den Hauptteil des Bandes bilden drei Essays, die im Wesentlichen die deutsche Politikgeschichte zwischen 1918/19 und 1990 nachzeichnen. Eingestreut in den Text sind gelegentlich grau unterlegte Felder, in denen Zitate verschiedener Autoren zu ausgewählten Forschungskontroversen zusammengestellt sind. Dennoch sind die Essays nicht von den Kontroversen her, sondern weitgehend chronologisch angelegt, mit dem ein oder anderen Kapitel, in dem gesellschaftliche und kulturelle Trends umrissen werden.

Im gelungensten Essay des Bandes geht Manfred Kittel von zwei „innen- und außenpolitischen Epochenfragen der Zwischenkriegszeit“ (S. 55) aus, die seine Argumentation zum Zeitraum 1918-1933/39 bestimmen: Wieso konnte so kurz nach dem Ersten der Zweite Weltkrieg ausbrechen und wieso brachen die nach dem Ersten Weltkrieg errichteten europäischen Demokratien so rasch wieder zusammen? Diese Leitfragen erlauben es Kittel, die Geschichte der Weimarer Republik, die im Zentrum seines Beitrags steht, in international vergleichender Perspektive zu schildern und allgemeine von deutschlandspezifischen Faktoren ihres Scheiterns zu trennen. Im vergleichenden Blick auf andere Staaten mutet ihr Ende „keineswegs spektakulär“ (S. 99) an; der damit einhergehende Aufstieg des Nationalsozialismus erscheint nicht als Notwendigkeit, sondern schweren strategischen Fehlern der politischen und gesellschaftlichen Eliten in der Krisenphase der Republik geschuldet.

Weniger straff argumentierend kommt die Darstellung von Nationalsozialismus, „Drittem Reich“ und Zweitem Weltkrieg aus der Feder Volker Dahms daher. Sie entwirft keine Leitfragen, sondern setzt ein mit der Schilderung des weltanschaulichen Programms Hitlers und dem Aufstieg der NSDAP. Ausführlich beschrieben werden Machtgewinn und Machterhalt der Nationalsozialisten, Terror, Vernichtungskrieg und Holocaust sowie der deutsche Widerstand. Wie alle Beiträge des Bandes ist auch dieser ausgesprochen klar und verständlich geschrieben; besonders prägnant wird etwa der Ausbau des NS-Machtapparates mit den Überschneidungen staatlicher und parteilicher Instanzen charakterisiert. Den Forschungsstreit zwischen Intentionalisten und Funktionalisten löst Dahm unter Hinweis auf das sozialdarwinistische Programm Hitlers auf: Zwar habe es in der Tat Kompetenzwirrwarr und widersprüchliche administrative Entwicklungen im Dritten Reich gegeben, doch habe es der Weltanschauung Hitlers entsprochen, dass auch unter seinen Paladinen eine „Auslese der Besten“ stattzufinden habe (S. 124). Mit anderen Worten ließe sich sagen, die „intentionale“ Umsetzung des Hitlerschen Programms habe logisch zum „funktionalistischen“ Durcheinander in Partei- und Staatsorganisation geführt.

Die Geschichte beider deutscher Staaten in der Nachkriegszeit bis 1990 ist Udo Wengst vorbehalten. Fast ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte, in der zudem zwei Staaten zu berücksichtigen sind, muss Wengst auf ca. 50 Seiten abhandeln - häufig bleibt da nichts anderes übrig, als zentrale Stichworte der historischen Entwicklung aneinanderzuketten. Wengst ist bestrebt, die Geschichte der DDR neben die der Bundesrepublik zu stellen, doch in beiden Fällen spielt sich sein Beitrag auf der Ebene von Staatsorganisation, Politik und Wirtschaftsfragen ab. Soziale und kulturelle Aspekte werden in einem eigenen Kapitel gewürdigt, wirken aber eher wie der Vollständigkeit halber angegliedert denn als integraler Bestandteil der Schilderung.

Der geringe Raum, der der Nachkriegsgeschichte eingeräumt wird, lässt kaum vermuten, welch blühende Forschungslandschaften die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR inzwischen geworden sind. Ähnliches gilt für die stark politikgeschichtliche Ausrichtung der Beiträge - trotz einiger präziser Bemerkungen von Udo Wengst zum Thema Vergangenheitsbewältigung erfahren die Leser kaum etwas über die Bedeutung, die der Geschichte von Erinnerungskulturen und -konstruktionen inzwischen in der Forschung zukommt. Dieser blinde Fleck kennzeichnet auch die vierzig Seiten lange Einleitung von Horst Möller, die die Frage „Was ist Zeitgeschichte?“ angeht. Möller sieht durch den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme den Diktaturvergleich als zentrale Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung wieder belebt (S. 47). Sein Bestreben scheint letztlich darauf zu zielen, endlich der Totalitarismustheorie, die sich vor 1990 der Kritik von Neomarxisten und 68ern ausgesetzt gesehen habe, ihren festen Platz unter den heuristischen Instrumenten der Historiker zu sichern. Daraus folgt auch seine Position zur zeitlichen Abgrenzung von Zeitgeschichte: Er plädiert dafür, die Periode zwischen 1917 und 1989/91 als "historische Einheit" anzusehen (S. 47). Diese Abgrenzung ist aber nur plausibel unter der Grundannahme, dass Diktaturvergleich und Totalitarismusforschung den Kern von Zeitgeschichte zu bilden haben.

Bei der Freude über die mögliche Entideologisierung alter Forschungsfronten bleibt Möllers Ansatz faktisch stehen - andere Themengebiete zeithistorischer Forschung, die zu anderen Periodisierungen und überhaupt zu einem vielfältigeren Blick auf Zeitgeschichte führen, bleiben weitgehend ausgeblendet. Migration, Gewalt, Massenkonsum, Geschlechterverhältnisse - dies sind nur einige der für die Zeitgeschichtsforschung bedeutsamen Stichworte, die im selektiven Band der Münchener kaum Erwähnung finden. Auch methodisch finden sich kaum anregende Überlegungen. Die Veränderungen des zeithistorischen Blicks durch die Umbrüche um 1990 beschränken sich bei Möller auf die Öffnung neuer Archive, einige neue Fragen (etwa die Diskussion um die Rolle der Wehrmacht) und Bemerkungen zum Umgang mit Quellen. Gerade die für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts charakteristischen Systembrüche könnten Anlass bieten, die Erfahrungen der Menschen und die Konstruktionen ihrer Erinnerungen zum Gegenstand historischer Untersuchung zu machen. Stattdessen wird in Möllers Beitrag die Oral History ungnädig beiseite gewischt: Sie ist ihm „methodisch [...] eine Regression in ein Zeitalter nur mündlicher Geschichtsüberlieferung“ (S. 19). Gegenüber der vielleicht in Teilen berechtigten Kritik an einzelnen Methoden geht hier letztlich das Verständnis dafür verloren, dass es gerade die Zeitgeschichte mehr als die weiter zurückliegenden Epochen mit den Erfahrungen noch lebender Personen zu tun hat und eigentlich nur unter Einbeziehung dieser Perspektive geschrieben werden kann. Die Unterschiedlichkeit und die stetigen Wandlungen dieser Erfahrungen sind es, die immer wieder zum Überdenken etablierter Periodisierungen führen müssen - erst darin zeigt sich, dass die Periodisierungsprobleme der Zeitgeschichtsforschung keine Frage steriler akademischer Abgrenzungen sind.

Der Band enthält noch einen ausführlichen und in der Tat nützlichen Literaturanhang, doch die damit verbundenen „Forschungsberichte“ wirken eher wie eine kommentierte Bibliographie. Immer wieder wird bei einzelnen der angeführten Titel auf damit verbundene Forschungskontroversen hingewiesen, doch nähere Angaben zu den entsprechenden Zusammenhängen werden kaum gegeben. Ein eher terminologischer Einwand lässt sich gegen den Titel des Bandes richten: Eine „Einführung in die Zeitgeschichte“ sollte neben den Forschungsfeldern auch die internationale Dimension des Fachgebietes ansprechen. Dies aber geschieht kaum, so dass die Leser auch an dieser Stelle auf andere Literatur angewiesen bleiben. Erwartet man von einer Einführung einen umfassenden Einblick in den Stand eines Fachgebiets, dann erfüllt dieser Band seine Aufgabe nicht. Der Neuling in der Zeitgeschichtsforschung erhält keine Vorstellung von der Vielschichtigkeit und anregenden Dynamik dieser historischen Subdisziplin. Sucht man nach einem klar geschriebenen Abriss der vornehmlich deutschen politischen Geschichte zwischen 1919 und 1990, mag der Band gute Dienste leisten.

 

Darmstadt, Detlev Mares

 

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