Faber, Richard (Hrsg.): Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, 266 S., Könighausen & Neumann, Würzburg 2005.

In dieser von dem Historiker Richard Faber herausgegebenen Anthologie wird an historischen und zeitgenössigen Beispielen der Katholizismus diskutiert und kritisch analysiert. Einige Beiträge greifen auf eigene Forschung zurück, andere sind Zusammenstellungen anhand von Literaturstudien oder theologische und soziologische Reflexionen über die Lage des Katholizismus von heute. Ein roter Faden fehlt, aber die Anthologie weist eine deutlich linkskatholische oder „progressivistische“ Tendenz auf, und die meisten Artikelverfasser sind bestrebt, entweder die negativen Seiten des katholischen Konfessionalismus aufzuzeigen oder auf alternative katholische Traditionen hinzuweisen.

Der Titel von Fabers Einführung „Libertäre Katholizität statt traditioneller Katholizismus“ gibt den Ton an. Hier wird der traditionelle Katholizismus und dessen hierarchischen und autoritären Prinzipien scharf kritisiert. Faber zeigt die ideologischen Affinitäten zwischen katholischer Weltanschauung, die er als „Prototyp“ des Totalitarismus bezeichnet, und der totalitären Ideologie des Faschismus und des Nationalsozialismus. Er entwickelt aber weder diese Totalitarismusthese noch andere Themen, die er aufgreift, sondern begnügt sich mit generalisierenden Urteilen und passenden Zitaten zeitgenössischer Akteure. Die kritische Tendenz des Sammelbandes kommt besonders im letzten Teil zum Ausdruck, in welchem der Katholizismus der Gegenwart im Zentrum steht. In einer abschließenden religionsphilosophischen Schlussbetrachtung über die 2000jährige Geschichte der Kirche definiert der Theologe Gotthold Hasenhüttl Christentum als „eine Tendenz“, die auf Befreiung ziele. Die einzige Grenze dieser christlichen Freiheit sei die Freiheit des Mitmenschen. Eine ähnliche Position vertritt der Sozialphilosoph Werner Post, der in seiner Analyse zur heutigen Lage des Katholizismus in Deutschland zu dem Schluss kommt, dass die Kirche in der westlichen Welt nur dann eine Zukunft habe, wenn sie ihre traditionelle Aufgabe als Hort der Wahrheit und ewig geltender Werte zurücktreten lasse und sich statt dessen auf Fragen der Gerechtigkeit und der Menschenrechte konzentriere. Auf althergebrachte religiöse Sinndeutungen und Praktiken solle man seiner Meinung nach nicht zurückgreifen, denn dies käme einer „modernitätskonservativen“ Kapitulation und einer „Musealisierung“ der religiösen Tradition gleich.

Vor einer solchen Musealisierung der katholischen Religion warnt auch der Theologe Hermann Häring in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Theologie Joseph Ratzingers. Er sieht Ratzinger, nunmehr Papst Benedikt XVI., als Exponent einer auf die Idee des christlichen Abendlandes ausgerichteten, konfessionell katholischen Weltinterpretation, die im Grunde totalitär sei. Als besonders empörend empfindet er, dass Ratzinger die Wahrheitsfrage des Christentums als Schlüssel zu seiner Universalität verstehe und damit „die Gestalt Christi zur universalen, für alle Kulturen verbindlichen Figur“ mache. Ihn stört also der von Ratzinger immer wieder betonte Wahrheitsanspruch des Christentums, und er wendet sich gegen das katholische Projekt einer Neuevangelisierung Europas. Für Häring ist die theologische Position Ratzingers ein Ausdruck von Überheblichkeit und mangelnder Dialogbereitschaft.

Auch im Beitrag von Marie-Theres Wacker wird, wenn auch indirekt, die Rolle Ratzingers diskutiert. Es geht hier um das 2004 erlassene Schreiben der römischen Glaubenskongregation über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche. In diesem Schreiben werden auf der Grundlage der biblischen Anthropologie die Heteronormativität und die Nichtzulassung der Frau zum Priestertum bestätigt und die Gegenargumente der feministischen Theologen zurückgewiesen. Nach Wacker wird damit jeder Ansatz einer feministischen Theorie, welche diese Sichtweise infragestelle, für unvereinbar mit der Lehre der Kirche erklärt. Wie dem auch sei, wichtig erscheint mir Wackers Beobachtung, dass sich das Dokument fast ausschließlich mit der Frau und den fraulichen Werten befasst, während über die Anthropologie des Mannes fast nichts ausgesagt wird. Dies ist eine Unterlassung, die tatsächlich alle vatikanischen Dokumente zu Familien- und Genderfragen charakterisiert.

Das Gros der Aufsätze findet sich im historischen Teil der Anthologie, darunter die Artikel der beiden Theologen Werner Krämer, der sich mit der Geschichte und gegenwärtigen Krise des Sozialkatholizismus befasst, und Josef P. Mautner, der am Beispiel des katholischen Schriftstellers und christlichen Sozialisten Walter Dirks die Bedeutung des Linkskatholizismus in der heutigen Gesellschaft diskutiert. Krämer beklagt, dass die solidaristischen Traditionen des deutschen Katholizismus nunmehr zu Gunsten neoliberalistischer Grundsätze aufgegeben worden sind. Nach Mautner hat sich diese Hinwendung zum Marktliberalismus aber schon in der Adenauerzeit vollzogen. Der bleibende Wert der linkskatholischen Tradition sei das Streben nach einer Rückbesinnung auf die egalitären und kommunitären Ideale des Christentums und die Bereitschaft, die eigene Position kritisch zu überprüfen. Von der konfessionellen Bindung, dem theologischen Konservatismus und der vom Sozialismus geprägten Kampfstrategie Dirks nimmt er aber Abstand.

Im historischen Teil des Sammelbandes werden wichtige Prozesse und Entwicklungslinien des westlichen Christentums von der Antike bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in kritischer Sicht beleuchtet. Der Religionshistoriker Hubert Cancik, der die kultische, rechtliche, organisatorische und theologische Entwicklung des antiken Christentums analysiert, hebt die Romanisierung der Petrustradition und der Westkirche als ein wichtiges Element hervor. Werner Krämer analysiert die ekklesiologischen Auseinandersetzungen zwischen Konziliaristen und Papalisten auf dem Baseler Konzil Mitte des 15. Jahrhunderts und das Aufkommen des römischen Papalismus. Krämer, der schon mehrere Studien zu diesem Thema veröffentlicht hat, ist bestrebt, die korporationstheoretische Tradition der Konziliaristen und ihre ekklesiologischen Auffassungen wieder zugänglich zu machen. Diese Tradition, die bisher meist aus den Stellungnahmen ihrer Gegner rekonstruiert worden ist, hat mit der ekklesiologischen Neuorientierung des Vatikanum II wieder an Aktualität gewonnen. Eine andere, lange negativ beurteilte katholische Traditionslinie stellt die so genannte katholische Aufklärung des 18. Jahrhunderts dar, die hier von dem Kirchenhistoriker Guido Bee diskutiert wird. Als bedeutendste Kennzeichen der katholischen Aufklärung in Deutschland hebt er die pastoraltheologischen und liturgischen Reformbemühungen hervor, die ja zum Teil durch das Vatikanum II aufgegriffen wurden. Auch hier geht es um die Wiederbelebung einer Traditionslinie, die als Alternative zu der immer noch vorherrschenden, kirchlich-hierarchischen Tradition dienen könnte.

Die Historikerin Esther-Beate Körber diskutiert die Konfessionalisierung des westlichen Christentums und die Entstehung des neuzeitlichen Katholizismus. Sie erhellt anhand konkreter Beispiele, wie die mittelalterliche Kirche mit ihrer selbstverständlich gelebten Frömmigkeit in Konfessionskirchen katholischer beziehungsweise protestantischer Prägung umgewandelt wurde. Körber sieht die neuzeitliche Entwicklung des westlichen Christentums als eine Art Verfallsgeschichte. Einer ähnlichen Perspektive bedient sich auch der Philosoph Norbert Wokart, der die These vertritt, dass die Lateinisierung der griechischen Philosophie und ihre Instrumentalisierung für theologische Zwecke zu einer Entfremdung vom praktischen Leben geführt haben. Der Theologe Thomas Ruster untersucht die Diskussionen zum katholischen Zinsverbot und dessen Aufgabe in der frühen Neuzeit. Ruster, der soeben ein Buch zum Thema publiziert hat, sieht dies als ein Bekenntnis zum kapitalistischen Wirtschaftssystem und eine, wenn auch indirekte, Anerkennung der relativen Autonomie des ökonomischen Lebensbereichs. Höchst interessant ist die von Ruster dargelegte Verbindung zwischen Zinslehre und Gnadentheologie. Da aber das kirchliche Lehramt in der Gnadenfrage keine letzte Entscheidung getroffen habe, ist nach Ruster eine Wiederaufnahme der thomistischen Zinskritik immer noch möglich. Er schließt mit einem Plädoyer für eine zinsfreie Sekundärökonomie unter kirchlicher Ägide, die zeigen könne, dass Wirtschaft nicht wachsen muss, um ihre Funktion zu erfüllen. Hier ist zu bemerken, dass man dies seit langem innerhalb des Islams praktiziert hat.

In den beiden abschließenden Artikeln des historischen Teils unterziehen die beiden Historiker Aram Mattioli und Olaf Blaschke die Beziehungen zwischen Katholizismus und Faschismus beziehungsweise Antisemitismus einer kritischen Prüfung. Mattioli zeigt im Anschluss an neuere Forschung, wie die katholische Kirche in Italien, die durch den Abschluss der Lateranverträge 1929 einen Großteil ihrer alten Privilegien zurückbekommen hatte, zur Befestigung des faschistischen Systems beigetragen hat. Im Faschismus glaubten die Vertreter der Kirche ein Instrument für die katholische Rechristianisierung der Gesellschaft gefunden zu haben, und sie waren zur Kooperation bereit, so lange nur die Rechte der Kirche gewahrt blieben. Dies ist sicherlich richtig. Es muss aber zugleich daran erinnert werden, dass die Kirche dennoch nicht ganz so willfährig dem Regime gegenüber war, wie Mattioli es darstellt; an ernsten Konflikten zwischen Kirche und Faschistischem Staat hat es auch in den 30er Jahren nicht gefehlt.

Blaschke nimmt die vieldiskutierte Frage des Vorhandenseins eines christlichen oder katholischen Antisemitismus auf. Er greift hier auf die in seiner Dissertation vorgelegte These von einem „doppelten Antisemitismus“ zurück. Die katholische Kirche habe zwar den Judenhass und den rassistischen Antisemitismus verworfen. Zugleich haben kirchliche Vertreter aber zum Kampf gegen den „schädlichen“ Einfluss des säkularisierten Judentums, das als Träger kirchenfeindlicher Ideologien wie Atheismus, Liberalismus und Sozialismus verstanden wurde, aufgerufen. Der katholische Antisemitismus war also nicht rassistisch, sondern kulturell und ideologisch bedingt. Blaschke setzt nun diese seine These in den größeren Erklärungsrahmen seiner vielbesprochenen Theorie vom „zweiten konfessionellen Zeitalter“, die besagt, dass die Periode von ca. 1830 bis 1960 vom Konfessionalismus und von dadurch bedingten ideologischen Kulturkämpfen geprägt gewesen sei. Erst auf diesem Hintergrund des Konfessionalismus kann, so Blaschke, der katholische Antisemitismus richtig verstanden werden. Im Mittelpunkt dieser katholischen Weltanschauung stand die Religion, nicht Nation oder Rasse. Anders- und Nichtgläubige, darunter auch die Juden, sollten zur Konversion bewogen werden. Aber auch wenn man, argumentiert Blaschke, den Katholizismus nicht direkt für die rassistische Selektion der Juden verantwortlich machen kann, so habe die katholische Kirche durch ihre negativen Urteile über die Juden dennoch einen Anteil am Aufkommen eines rassistischen Antisemitismus und dessen Folgen.

Das Spektrum dieses Sammelbandes ist reich an Themen und Perspektiven, weshalb es schwer fällt, ein zusammenfassendes Urteil zu fällen. Gemeinsam ist den Autoren/innen das Bemühen auf die Bedeutung der katholischen Kirche und des Katholizismus, im negativen wie im positiven Sinne, für die europäische Kulturentwicklung in Geschichte und Gegenwart hinzuweisen – und damit zugleich auf die Rolle der Religion als Kulturfaktor und auf verloren gegangene Traditionen (etwa die katholische Aufklärung) und empfindliche Stellen (wie den Totalitarismus) aufmerksam zu machen.

Lund (Schweden), Yvonne Maria Werner

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